Sonntag, 29. Juli 2012

Drogenprävention in Kangding (康定)

Aufgelegt in Post und Busstation in Kangding: folgendes Flugblatt. Im Januar 2011 habe ich in einer schummrigen Bar in Kangding Tibeter beobachtet. Ein Handschlag, danach steckte der eine etwas in seine Tasche, um dem anderen dann ein paar Geldscheine zu überreichen.

Im Fernbusbahnhof lag dann der folgende Flyer aus. Er richtet sich offensichtlich an Tibeter, die chinesische Version der jeweiligen Sätze steht unter dem Tibetischen und ist weniger prominent.




Donnerstag, 26. Juli 2012

Li Chengpeng: ”Totem“ // 李承鹏:“图腾”

Als plötzlich das grösste Unwetter der letzten 61 Jahre über Peking niederging war ich weit weg, um einen Artikel über die sechs Milliarden zu schreiben, die die Regierung letztes Jahr für ihre Autos ausgegeben hatte. Sehr peinlich, die Hauptstadt des Reiches so durchnässt und doch sieht man nur Privatautos, die rausfahren um zu helfen, keines derer für sechs Milliarden gekauften hinterliess Spuren von Heldentum.

Gerade als eine erneute Kampagne gegen Weibo (chinesisches Twitter Äquivalent) losgetreten wurde, begann Weibo Menschenleben zu retten mit präzisen, geordneten Informationen. Die Menschen sprachen sich ab, alle Rettungswagen waren unterwegs mit Blaulicht, die ganze Stadt war ein pulsierendes Herz. Zu diesem Zeitpunkt war die alte Debatte über die (fehlende) moralische Qualität der Chinesen nur noch schändlich. Wenn man nach Wenchuan (dem Epizentrum des Erdbebens von Sichuan), Yulin (200 vergiftete Schüler wegen schlechter Milch) und dem Crash des Hochgeschwindigkeitszugs und den gestrigen Ereignissen in Peking auf den Hurrikan in New Orleans zurückblickt, sieht man dass die Chinesen hohen ethischen und moralischen Ansprüchen genügen. Aber, die Frage stellt sich: Warum sieht man das nur im Angesicht von Katastrophen? In normalen Zeiten beschimpfen sie sich beim Drängeln im Bus, beim Schlangestehen vor Ticketschaltern gibt es Massenschlägereien, aber zu Katastrophenzeiten sieht man Ritterlichkeit wie vor dem Untergang der Titanic. Meine Kollegen fuhren zur Autobahnbrücke am Guangqi Tor um bei der Rettung mitzuhelfen, kaum war das Auto da schrien die Leute: "Frauen und Kinder zuerst!"

Die Moral der Chinesen wird zu normalen Zeiten von irgendeiner Kraft niedergedrückt. Wenn ein Land nur danach schmachtet, mit öffentlichen Geldern Autos zu kaufen, anstatt Busse für die Öffentlichkeit, wenn die Leute vom Verkehrsministerium nur Grossprojekte im Sinne der eigenen Karriere durchdrücken wollen anstatt der Öffentlichkeit zu dienen, in solchen Zeiten kann man keine moralischen Ansprüche haben, wenn man sich selber schützen will. Aber die Menschlichkeit ist da, wie eine Perle in der Finsternis leuchtet sie wenn es wirklich zählt. Nun wissen es alle: Der alte Mann der im Abwasserkanal lag, um den Abfluss freizumachen, die Stadtarbeiter, die vor dem Gully ohne Deckel wachten, die Jungs die mit Brot und Mineralwasserflaschen losgingen um eingeschlossene zu suchen, die Männer, die extrem vorsichtig werden, wenn sie ein klicken in der Leitung hören* und die nun ihre Handynummern und ihre Adresse veröffentlichen um Essen, Unterkunft und eine heisse Dusche anzubieten... Ich möchte keine pathetischen Ansichten wie "Wir sind alle Chinesen" verbreiten, ich meine vielmehr feststellen, dass der chinesische Bürgersinn wächst. Genau, wer an der Selbstregulierung der Gesellschaft teilhat, wird sich lebendig uns sicher fühlen.

Das ist Zivilisation, ich helfe den anderen und die anderen helfen mir. Ich bewundere den neuen Geist der Pekinger, den Zhao Chu beschrieben hat, aber ich finde nicht, dass es ein Peking vor und eines nach dem Unwetter gibt, es war immer dasselbe Peking. Es gab nur diese Zäsur, die aus einzelnen Menschen eine Gruppe formte. Vor etwa zwei Jahren kochten die Gefühle hoch als Auswärtigen vom Kauf von Wohnungen in Peking ausgeschlossen wurden, die Alteingesessen sahen die Neuankömmlinge am liebsten alle rausgeworfen, die Neuankömmlinge fanden, richtige Pekinger gibt es sowieso nur in Zhoukoudian**. Langsam haben alle begriffen, dass in diesem China jeder, der nicht reich ist, ein Auswärtiger ist, und dass die einzig richtigen Alteingesessenen sowieso in Zhongnanhai*** residieren. Wenn die moderne Kultur durch die Gardinen rieselt, wenn die ganze Stadt zum Meer wird, dann wirkt dieses Konzept von Aussen und Innen plötzlich sehr leer. Gestern Nacht hat mein Freund Yang Fei, ein typischer Sprössling reicher Eltern, bis zum Morgengrauen mit seinem Hummer Leute nach Hause gefahren, hat Wuyue Sanren**** Eingeschlossenen Unterkunft geboten, gestern Abend haben viele Pekinger dazu aufgerufen, den in Peking Gestrandeten, denen die hergekommen waren, um sich wegen in der Heimatstadt erlittenem Unrecht an die Obrigkeit zu wenden, und die nun in ihren unterirdischen Schlägen zu ertrinken drohten zu helfen, gestern Abend hat Li Fanghong, Kommandant eines Polizeipostens, sein Leben geopfert, als er Eingeschlossenen helfen wollte. Der Riss, der die Menschen teilt, war kurz geschlossen, denn so ist die menschliche Natur.

Aber es gibt diese Wunde in der Gesellschaft, man sieht das wenn normale Bürger ihre Türen öffnen, wenn sie es riskieren, dass der Motor ihres eigenen Autos im Brackwasser absäuft, um anderen zu helfen, aber der öffentliche Verkehr wie jeden Abend pünktlich stillsteht, wenn an den Mautstellen weiterhin abkassiert wird und die Autos in der Schlange langsam untergehen, wenn die Leute vom Ordnungsamt, die Strassenhändler sonst gnadenlos verfolgen plötzlich spurlos verschwunden sind. Der Regierung entging völlig, welche Gelegenheit zu einem grossen Auftritt sie verpasste, und hätte sie nur ein paar Zimmer in einem Motel für die Eingeschlossenen geöffnet! Sie haben nicht daran gedacht, so wie sie nicht daran gedacht haben, eine passende Kanalisation aufzubauen, als sie der Stadt eine schöne Fassade verpassten... Sie können nur die Schleusen der Propaganda öffnen, sie wissen nicht, dass die öffentliche Meinung der beste Abwasserkanal ist, fast wie ein Totem, wie Wasser folgt sie dem leichtesten Weg, passt sich allem an, nimmt keinen guten Rat an. Es ist nicht die Stadt, die schlecht ist, sondern die Dinge wurden nicht vollendet, ein Abwasserkanal trennt mich und dich.


Zur Olympiade 2008 sang Liu Huan "Ich und Du", er hatte Recht, wir leben wirklich alle in derselben Welt. Wir leben aber nicht denselben Traum. Die Beamten denken nur daran, im Ausland "Erkundungen" zu machen, einmal die Strasse vor der Tür zu besichtigen, käme ihnen nicht in den Sinn. Der neueste Witz ist: Die Beamten sagen, dass sie seit vorgestern eine Armee zur Frühwarnung vor und Vorbeugen gegen Unglücksfälle in der Stadt zusammengezogen haben. Beim Vorbeugen verloren aber zehn Soldaten ihr Leben, das zeigt wie schwach diese Stadt ist, die wir anhand einer grossen Erzählung aufgebaut haben.


So wie früher muss man diese Geschichte nun anhand der Versatzstücke "Liebe kennt keine Grenzen, in der Katastrophe rücken wir näher zusammen" schönreden. ***** Ich wette, bald kommen Artikel mit Titeln wie "Ein Unwetter bringt die wahren Gefühle der Menschen hervor". Ich finde solche Artikel widerwärtig, das Gewitter hat die Gefühle der Menschen nicht von neuem heraugebracht, sondern es hat die Realität aufgezeigt. Diese ist: Eine Stadt, die nicht einmal eine Kanalisation bauen kann wird nie auf der Überholspur fahren, und wenn ein ganzes Land keine richtigen Abflüsse bauen kann, dann weiss man, warum der Volkszorn im Versteckten brodelt.


Okay, Ich schreibe nur bis hierhin, ich fahre zum Flughafen und fliege in den Süden. Ich halte keine Rede, schreibe keinen Artikel. Ich zünde nur eine Kerze zum Gedenken an.

* weil sie eine Nebenfrau haben.
** Fundstelle des Peking-Steinzeitmenschen
*** Pekinger Regierungssitz
**** Schriftsteller
***** Tatsächlich orderte die Regierung die Medien, diese Aspekte der Geschichte zu betonen, siehe hier.

Montag, 23. Juli 2012

Han Han: Die neuen Hauptfiguren sind schon da // 韩寒:已来的主人翁


Heute habe ich noch viele Nachrichten über Shifang gelesen. Nach sorgfältigem Sortieren und Hinterfragen ist eines klar: Shifang ist in Not, und von allen Seiten eilt Hilfe herbei. Die Jungen, nach 1990 Geborenen machen sich verdient: Gestern haben sich viele Bürger Shifangs vor den Toren des Regierungsgebäudes versammelt, und gefordert, dass die Schüler freigelassen werden. Sogar aus dem benachbarten Guanghan sind Gruppen von Schülern zur Unterstützung gekommen. Es wurde auch berichtet, dass die politischen Rechte in Shifang nur dank der Apelle der Schüler vor den Regierungsgebäuden aufrechterhalten wurden. Zum Glück hat die Regierung diese Schüler später freigelassen und hält nur sechs andere Leute weiterhin fest. Viele Sagen, dass die Ereignisse nach dem Erdbeben von Sichuan sie ihre Einstellung gegenüber den nach 1980-Geborenen hat ändern lassen. Die Ereignisse von Shifang dürfte ähnliches für die Nach-90ern bewirken.

Tatsächlich, nur weil sie sich ihre Haare zu Dauerwellen-Afros auftürmen sind sie nicht alle Alternative (das Wort Alternative scheint hier sehr negativ besetzt, vielleicht wäre die Übersetzung Leute, die außerhalb der Gesellschaft stehen passender). Im Gegensatz zu explodierten Frisuren explodieren die Granaten der Polizei wirklich. Blendgranaten, wie sie die Gamer sonst nur aus Counterstrike kennen. Hätte die Regierung Sprenggranaten gegen die Bevölkerung verwendet, sie wäre als Gewaltherrschaft entlarvt. Der Blitz der Blendgranate lässt ihre Opfer ein paar Minuten taumeln, aber das Verwerfliche ihrer Handlungen kann die Staatsgewalt damit nicht verbergen. Glaubt ihr etwa, ihr dreht hier „Men in Black 4“, dass ihr mit den Blitzgeräten die Erinnerung der einfachen Bürger auslöschen könnt? Ganz im Gegenteil, mit jedem Blitz wird dieser Augenblick für die Geschichte dokumentiert. Diese Geschichte werdet ihr nicht übertünchen können.

Wenn einige die Grenzen überschritten haben, verhaftet wurden und nun gerichtlich verfolgt werden, dann kann ich dagegen nichts einwenden. Wenn die Polizei aber die Grenzen überschreitet, mit all ihren Waffen auf Bürger schießt als wären sie kriminelle, sollte sie sich nicht dafür entschuldigen? Die Tweets der Stadtregierung strotzen nach wie vor mit Wortklaubereien, martialischen Tönen aber keinerlei Entschuldigung. Ganz im Sinne von „Wir verzichten darauf, unseren Palast zu bauen, und verschonen euer Leben“. Sie gipfelten in Floskeln wie: „Schützt die berechtigten Ansprüche der Volksmassen, bewahrt die Harmonie und Stabilität der Gesellschaft.“ Das ist wie eine Aufforderung, Mundharmonika zu spielen und zu singen, beides gleichzeitig geht nicht. Obwohl der offiziellen Weibo Account „Vitales Shifang“ ausschließlich zur offiziellen Verunglimpfung benutzt wird, sehe ich es doch als einen Fortschritt verglichen mit früheren Zeiten. In kühlem Ton erzählt dieser Account den von ihren Hormonen aufgeputschten wie sich die Sache entwickelte, im wesentlichen ohne zu lügen. Im heutigen China ist das ja schon eine Seltenheit. Auch lange Weibo Tweets können sie schon benutzen, das ist so neuartig wie ein Beamter, der öffentlich seinesgleichen moralischen Bankrott gesteht. Jeder Fortschritt verdient Lob. Danach... weiter kritisieren!

Um wieder auf die Nach-90er Schüler zu sprechen zu kommen: Sie verdienen Lob, aber ein paar Sachen machen nachdenklich: Auf einer Bilderserie sah man ein Nach-10er, ein Baby, mit leichten Verletzungen. Ich fühlte eine unbändige Wut gegen die Militärpolizei und hämmerte „die Freisetzung von Shifang“ in die Tasten, die ganze Nacht lang. Ich mag aus Abfällen gewonnenes Fett essen, aber ich möchte nicht, dass meine Tochter das tun muss, ich mag auch schlechte Luft atmen, aber ich möchte nicht, dass meine Tochter das tut, ich kann in der Mitte von XX leben, aber ich wünsche, dass meine Tochter im Gegenteil davon lebt. Ursprünglich nahm ich an, dass den Generation der in den 80ern, 90ern Geborenen keine andere Wahl bleibt, als sich für die späteren zu opfern, aber jetzt denke ich, dass wir vielleicht schon das Werk vollenden können, das unsere Väter begonnen haben. Diese Leute sind die Hauptdarsteller der Zukunft, doch sie sind bereits hier. Die Welt gehört euch, sie gehört auch uns, doch zuletzt gehört sie doch ihnen (Eine Abwandlung eines Zitates von Mao Zedong, der über die zukünftigen Generationen sagte: "Die Welt gehört euch, sie gehört auch uns, aber zuletzt gehört sie doch euch."). Die Beamten von Shifang gehören ziemlich genau der Generation unserer Väter an, schaut, wie diese Generation der Nach-80er, Nach-90er ein paar Änderungen vornimmt. Ich weiss, ihr habt euch schon weit zurückfallen lassen und Kompromisse gemacht, lasst uns zusammen eine gute Sache zu Ende bringen.

Einige Leute sagen, die Tatsache, dass man über die Ereignisse von Shifang Artikel veröffentlichen kann liegt an internen politischen Machtkämpfen. Ich glaube das, aber es ist mir egal. Heute Abend gibt es Freibier, hast du etwa keinen Durst? Kümmert euch um eure Machtkämpfe, ich nehme meine Rechte wahr, wenn ich schon kann. Wenig eint die Menschen so sehr wie Anstrengungen für das Überleben unserer Umwelt. Auf dem Weg in Richtung Demokratie und Perfektion werden wir uns manchmal erheben und marschieren um uns dann wieder hinzusetzen, häufig nicht für diese inhaltslosen, grossen Worte, aber vielleicht nur für eine Sache, einen Menschen, einen Baum, eine Fabrik. Vielleicht hat die Sache mit dir selber zu tun, vielleicht nicht. Die Umweltverschmutzung von Shifang wird es niemals zu mir nach Shanghai wehen. Ich weiss aber, liebe Freunde, für uns alle die wir jetzt vor unsere Computern sitzen, wird mal die Zeit kommen, und dann brauchen wir euer Verständnis und eure Unterstützung!


Zum Originalpost:

Freitag, 20. Juli 2012

Han Han: Die Freisetzung von Shifang // 韩寒:什邡的释放


Vor vier Jahren, zur Zeit des Erdbebens von Sichuan, fuhr ich in die Katastrophengegend. Ich kann mich düster erinnern, dass die Regierung ein paar Tage nach dem Erdbeben beschloss, alle herrenlosen Hunde einzufangen und einzuschläfern, um Epidemien vorzubeugen. Ich liebe Hunde, und obwohl mich das traurig machte, machte diese Massnahme unter diesen Umständen doch Sinn. Als ich Sichuan dann verliess, nahm ich einen von diesen Hunden mit nach Shanghai. Ich erwähne das heute, weil dieser Hund aus der Stadt Shifang (Gemeinde Hongbai) stammt. 

Heute Abend sprach man wieder von Shifang. Vor vier Jahren war ich auf irgendeiner Strasse in Shifang, auf beiden Seiten zerstörte Fabriken, in den flachen Plätzen biwakierte die Armee, unwirkliche Bilder.

Ich dachte an mein Heimatdorf, Shanghai's Zentrum der Chemieindustrie, ein Dorf in der Gemeinde Tinglin im Stadtbezirk Jinshan. Ich sehe wie sich mein Dorf gewandelt hat, von grünen Kanälen und Rauchfähnchen, die aus den Küchen der Häuser in den klaren Himmel steigt, in das was es jetzt ist. Es brauchte nur zehn Jahre, das Flusswasser ist wie Farbe und die Luft ist Gift. Damals, als es darum ging, diese Chemieprojekte mit viel Umweltverschmutzung durchzudrücken, fantasierte die Regierung, dass die Einwohner Steigerung des BIP des Dorfes verlangten, und dass die Regierung nur dann Glück für alle schaffen könne, wenn die Steuereinnahmen sprudeln. Zehn Jahre danach hat sich der Druck im Leben der Dorfbewohner kein wenig gemindert, ihre soziale Sicherheit hat sich kein bisschen verbessert. Dafür atmen wir keine saubere Luft mehr, und der Fluss ist ein Trauerspiel, kommt in sieben verschiedenen Farben in der Woche, du kannst ablesen, welcher Wochentag gerade ist. Die Leute aus Tinglin haben sich dafür entschieden, das zu ertragen, schliesslich zeigen die Prüfberichte vom Umweltamt, das alle Werte innerhalb des normalen Rahmens liegen. Klar, wenn man keine Mindestanforderungen hat, dann liegen die Werte immer darüber. Aber in diesem Wasser können nicht mal Flusskrebse überleben, das sagt schon alles.

Die einfachen Chinesen haben mit Flusskrebsen wirklich viel gemeinsam: Sie können unglaublich viel über sich ergehen lassen, können in jeder Umgebung überleben. Aber obwohl sie zwei Scheren haben, werden sie oft durch den Rücken aufgespiesst und sind dann wehrlos. Wenn man sie erschreckt, weichen sie zurück, und trotzdem enden sie am Ende auf dem Speisetisch der hohen Tiere. Die wischen sich den Mund ab: "Nicht schlecht, vielleicht ein wenig scharf."

Deshalb möchte ich der Regierung von Shifang sagen: Dies sind keine Krisenzeiten, die Erwartungen der Menschen an ihre Umwelt verdienen Respekt. Ihr Bosse wechselt alle paar Jahre eure Posten, und tauscht dann die Verschmutzung, die ihr hinterlasst gegen ein gutes Zeugnisse ein. Wenn ihr's gut gemacht habt, werdet ihr auf einen besseren Posten befördert, im schlimmsten Fall kommt ihr vors Exekutionskommando. Sowieso seid ihr nicht mehr da, die einfachen Leute aber schon. Die Regierung von Shifang hat dieses Projekt eines Molybden- und Kupfer Werks beerdigt, welches die Wut der Leute hat hochkochen lassen, aber ich denke aufgestaut hat sich diese Wut davor schon. Was eine Frage nach Vor- und Nachteilen einer Fabrik war, hat sich nun in einen Massenprotest entwickelt, ein ursprünglich idealer, friedlicher und kluger Protest um erneute Verhandlungen, hastig zerschlagen. Man sollte ihnen nicht die Deutungshoheit überlassen mit ihrem Gerede von "Pöbel und Unruhestiftern".

Ich möchte der Regierung auch sagen: Die Entscheidung, die Demonstration aufzulösen habt ihr zu hastig gefällt, und die Art war übertrieben. Ich kann euch verstehen, als eine Regionalregierung, ohne Erfahrung mit dem Management solcher "Massenvorkommnisse", wenn ihr nur seht, dass das Regierungsgebäude umstellt wurde, die Tafel mit dem Namen der Stadt vor dem Gebäude schon kaputtgeschlagen wurde, das ist unschön. Ihr seht unten die Menschenmassen, kuckt oben an den Wandkalender, seht: Es ist der Tag an dem die Organisation gegründet 4wurde (1. Juli, Gründungstag der KP China). Schlechtes Timing, ungünstige Situation, ein Gedanke: Ich werde Amt und Karriere verlieren! Also: Schnell die Leute auseinandertreiben. Wenn's nicht mehr reicht, die Parteigründung zu feiern, egal, die machen es eh kaputt, was für eine Demütigung für die Partei!" Man kann sich vorstellen, aus der Entscheidungsebene klang es so: "Dieses Problem muss nicht zwingend in kürzest möglicher Zeit gelöst werden." Auf der ausführenden Stufe dachte man: "kürzeste Zeit… Auflösen… Verstanden…“ Und so gab es dann gar keinen Dialog. Kann es sein, dass ihr die Sorgen der Leute um die Luft, die sie atmen und das Wasser, das sie trinken so behandeln wollt wie Epidemien? Muss man beide noch am selben Tag eindämmen? Ohne Dialog, direkt mit Tränengas? Die Regierung von Shifang hat das Erdbeben von Sichuan miterlebt, wie kann sie nicht wissen, dass je mehr Gefühle sich bei den Leuten angestaut haben, sie umso mehr Dampf ablassen müssen? Wenn sie ihrem Ärger dann Luft machen, ob sie nun angestachelt oder aufgehetzt wurden, dann wollt ihr diese ehrliche Wut nicht verrauchen lassen sondern müsst gleich Chiliwasser (Benutzt die chinesische Polizei offenbar gerne bei diesen Gelegenheiten, ähnliche Wirkung wie Pfefferspray) versprühen? Das gibt dann eine richtige Schlacht, Bürger gegen Polizei, die Bürger mit tränenüberströmten Gesichtern?

Ehrlich gesagt bin ich kein Experte, zu Molybdän-Kupfer Werken kann ich nichts sagen, ich finde nur, man kann so nicht mit Massenaufmärschen umgehen. Die Beamten sagen, das Haupttor des Regierungsgebäudes wurde aufgestossen, in den Nachrichten hat man aber vor allem gesehen, wie der Staatsapparat Leute verprügelt. Wenn es nur darum geht, die Ordnung aufrechtzuerhalten, einen Massenaufmarsch aufzulösen, müsst ihr dann wirklich noch prügeln und Chiliwasser sprühen? Eine solche naive Anwendung von Waffengewalt kann das ganze nur schlimmer machen. Shifang geht mich etwas an, weil es für Tinglin steht. Leute von Shifang, ihr habt einem Erdbeben der Stärke 8 getrotzt, ihr könnt gegen die Schläge ankommen. Ein Regierungsgebäude, das ein Erdbeben der Stärke 8 überstanden hat, wird auch mit kritischen Fragen zurechtkommen.

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Hier das Original: aber mittlerweile ist der Post gelöscht.

Donnerstag, 19. Juli 2012

Han Han: Das Leben, so wie ich es verstehe. // 韩寒:我所理解的生活


Vor einigen Tagen nahm ich an einem Rennen teil und traf dort auf einen Freund, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Heutzutage arbeitet er als Berater für Prominente. Das ganze Wochenende war er immer irgendwo im Fahrerzelt. Am Sonntagabend, als es daran ging, sich zu verabschieden, sagte er mir, dass ich mein Potenzial nur schlecht nütze, dass es Fehler gebe in der Art, wie ich mein Image handhabe, und dass, würde sich ein professioneller Berater dieser Fragen annehmen, dann könnte man das ganz anders aufziehen. Lass es uns so machen, ich gehe nach Hause und schreibe dir eine Zusammenfassung meines Konzepts.

Jetzt hat er gerade angerufen. Ich hätte zuviele Probleme, um sie in einem E-Mail anzupacken. An jenem Rennwochenende zum Beispiel, da hätte ich ständig "Doppelgespiegelt". Ich war verblüfft: Ich wusste von "Doppelgerichtsbarkeit" (die für gefallene hohe Beamte gilt), aber "Doppelreflexion", davon hatte ich wirklich noch nie gehört. Nach einer halben Ewigkeit ging mir endlich ein Licht auf: dieses sogenannte "Doppelspiegeln" bedeutete, dass ich meine Kleider auf links angezogen hatte, weshalb aussen zu innen und vorne zu hinten wurde! Ich sagte, ich hätte das Haus in zu grosser Eile verlassen und nicht genau aufgepasst, und es hätte mich auch niemand darauf aufmerksam gemacht. Kein Wunder hatte ich mich das ganze Wochenende ein wenig eingeengt gefühlt um den Hals herum!

Mein Freund meinte, das sei ja grosses Problem, ich sei ja sowieso etwas verschlampt, aber dadurch gebe ich den Leuten natürlich eine Möglichkeit, sich über mich lustig zu machen. Wirklich gravierend ist, dass ich einfach auf dem Sofa im Fahrerzelt geschlafen habe. Während ich schlief hätten mich insgesamt zwölf Leute heimlich fotografiert, fünf von ihnen trugen einen Presseausweis, vier gehörten zu einem Rennteam und die restlichen drei waren andere Fahrer gewesen. Von diesen dreien wiederum haben zwei mit Absicht Fotos gemacht, die mich schlecht aussehen liessen. Er fuhr fort: "Ich habe das recherchiert, fünf von diesen zwölfen haben ihre Fotos auf Weibo veröffentlicht. Ein Photo lässt dich wirklich sehr schlecht aussehen und kann dein Image in der Öffentlichkeit beeinflussen. Es war auch niemand da, der die Leute davon abgehalten hätte, diese Photos von dir zu machen, in unserer Branche wäre so etwas undenkbar!" Ich meinte, da hätte ich nun wirklich nichts dafür gekonnt, ich hatte ja mitten in der Nacht EM geschaut und dann einfach wirklich zuwenig geschlafen. Ich fragte ihn, ob er mir etwa beibringen könne, wie man mit Stil schlafen kann?

Er klärte mich weiterhin auf: "Der Gesichtsausdruck ist nebensächlich, entscheidend ist, dass du dich im Schlaf eingerollt hast, mit den Händen immer im Schritt, diese jämmerliche Haltung zerstört dein Ansehen. Wenn ein Foto davon hochgeladen wird, werden sich viele Fans davon abgestossen fühlen." Darauf ich: "Ich habe ja wohl meine Hände nicht in den Schritt meiner Fans gelegt, sondern zufällig meinen Schwanz angestupst, das geht die doch einen - ja genau - einen Schwanz an! Wenn sie sich abgestossen fühlen, dann scheiss drauf." So könne ich das aber nicht sehen, "Du bist eine Person des öffentlichen Interesses, und wir leben im Twitter Zeitalter, jeder kann in Sekundenschnelle Fotos schiessen und verbreiten, und je extremer die Message desto häufiger wird sie reposted! Du musst sicherstellen, dass kein Foto dein öffentliches Image gefährdet, wie zum Beispiel die Hände, die du an jenen Ort gelegt hast, so ein Bild kann sich mit Leichtigkeit Tausende Male verbreiten." - "Dafür kann ich auch nichts, die Klimaanlage war zu stark aufgedreht und es war viel zu kalt im Fahrerzelt, sobald es ein bisschen Kalt ist, werde ich im Schlaf zum Schrittschützer! (捂裆派 klingt fast gleich wie 无党派 - Ein Parteiloser) Seit Kindestagen ist das so. Ich kann ja nicht jedesmal wenn ich schlafe Leibwächter einstellen um die Leute vom Fotografieren abzuhalten, das wäre doch zu angestrengt."

Mein Freund wies mich noch auf eine Reihe anderer Probleme hin, zum Beispiel dass ich mich mit anderen fotografieren lasse, wenn sie es wollen, ich unterschreibe alles, was mir die Leute hinhalten, das kann zu Verwicklungen führen. Ich: "Das stimmt doch gar nicht, wenn mir die Leute 100 Yuan hinhalten, dann werde ich das nicht unterschreiben." "Gut, zumindest hast du noch dieses Problembewusstsein. In unserer Branche gibt es Stars, die auf einer Banknote ein Autogramm gegeben haben, die wurden deswegen von den Internetusern aufs übelste beschimpft. Es ist sicher nicht gut, den Yuan zu sabotieren!" - "Nein, darum geht's mir nicht, ich möchte nur nicht meinen Namen neben den vom alten Mao Zedong setzen."

Mein Freund entgegnete voll bitterem Hass: "Siehst du, mit solchen Äusserungen musst du sehr aufpassen, damit beleidigst du zuviele Menschen! Im Fahrerzelt hast du auch so geredet, einfach alles was dir in den Sinn kommt, und häufig benutzt du auch Schimpfwörter. Du musst wissen: Wenn jemand dir übel gesinnt gewesen wäre und das aufgenommen hätte, aufs Internet hochgeladen hätte - das sind riesige Negativschlagzeilen. Weisst du wieviele Leute in diesem Zelt waren? Achtzehn. Kennst du die etwa alle?"-"Nein, ein paar kannte ich nicht." Am anderen Ende der Leitung fiel meinem Freund fast der Hörer aus der Hand. "Da gibt es einige, die du nicht kennst, und du redest so? Hast du überhaupt jemals an die Konsequenzen gedacht? Sobald du aufwachst machst du Gruppenfotos mit irgendwelchen Leuten, die Haare wirr wie ein Teletubby, die Leute benutzten noch den Kamerablitz, wie diese Fotos aussehen kannst du dir ja denken. Schau die Farbkomposition deiner Kleidung an, bäuerisch! Und am wichtigsten ist: Auf die kleinen Details achten! Den Hosenschlitz immer ganz zu! Insgesamt bist du einfach zu zwanglos, hast keinen Experten zur Seite, der dir hilft. Wenn du nicht selber dein Image streng und systematisch managst, dann wirst du das Mysteriöse und die Aura des Berühmten bald verlieren. Wenn du eine gute Positionsbestimmung von dir selber vornimmst und den richtigen Assistenten hast, die Kreise, in denen du dich bewegst justierst, dann kannst viel mehr verdienen als jetzt. Sag mir, wie willst du dich managen? Wie stellst du dir das vor?"

Ich: "Das ganze Wochenende habe ich nur daran gedacht, dass mir 0,3 Sekunden zu meinem Gegner gefehlt haben, wie kann ich die wieder einholen? Ich muss schon froh sein, wenn ich nicht nackt rausgehe, wie könnte ich da noch an die Komposition meiner Kleider denken?"

Ich hing auf, tiefe Nacht, Ruhe ringsum. Ich dachte darüber nach was mir mein Freund da erzählt hatte, einiges davon stimmte ja. Im Fahrerzelt habe ich wirklich erzählt was mir gefiel, hatte keine Abwehrhaltung gegenüber niemandem, hätte das wirklich jemand aufgenommen oder direkt übertragen, das hätte Schwierigkeiten gegeben. Die Abwehrhaltung der Menschen gegenüber Fremden sind in den Grundeinstellungen geregelt, ich mag es nun mal, vom Guten im Menschen auszugehen, und erst später die schlechten auszusieben, andere machen es andersrum. Aber all diese Selektionierten schlagen mal fehl. Ich glaube daran, ehrlich mit den Menschen umzugehen, und wenn Verluste entstehen, diese anzuerkennen.

Bezüglich Kleidung: Diesen Sommer habe ich nur ein paar T-Shirts gekauft, und im Winter trage ich auch immer dieselben zwei Lederjacken, Schuhe auch immer dieselben ein, zwei Paar… Bei meinen Wettbewerben geht's um Geschwindigkeit, nicht um Schönheit! Ich habe Angst vor Verletzungen, nicht vor schlechtem Stil.

Im Leben, so wie ich es verstehe, geht es - neben dem Kreieren von Gerüchten - um das Kreieren von anderen Dingen. Gutes Schicksal ist für mich: Wievielt Kultur hast du geschaffen? Da ich nun schon vor 30 Jahren aus 100 Millionen anderen auserkoren wurde, schneller gerannt bin als alle anderen Spermien, da ist meine Geburt doch schon ein starkes Stück, und dass ich nun in dieser Welt bin, muss mit dem Hinterlassen einiger Spuren gefeiert werden. Ich geben zu, schöne Kleidung und ein eleganter Auftritt bedeutet auch, etwas schönes zu schaffen, aber in diesen Bereichen bin ich einfach nicht so begabt. Ich gebe zu, in dieser Gesellschaft glauben viele, dass man keinen moralischen Bankrott erklärt wenn man - solange man nicht zu viel flucht - ein wenig der Wahrheit nachhilft, ein paar leere Worte am rechten Ort, ein paar Höflichkeiten loswird, ein paar skrupellose Gerüchte, verrückte Gerüchte streut. Das finde ich nicht, und den Heuchlern, die so denken, möchte ich hier sagen "Fickt euch!". Ja, das lässt diese erstaunten Ethiker am ganzen Körper zittern, sie werden das heftig kritisieren, schreien und toben, sich am Boden wälzen und um sich schlagen, dann plötzlich aufstehen und den Rechtsweg einschlagen. Die Lösung: "Noch einmal: Fickt euch!". Ich meine nicht euch alle, sondern diese Gesellschaft, in der sich der Glaube festgesetzt hat, manierlich gestellte Fallen seien okay. Diese Gesellschaft gibt denen mit den sauberen Worten aber den schmutzigen Gedanken und Händen die Macht, diese Gesellschaft vertauscht schwarz und weiss willkürlich, vertauscht Recht und Unrecht, diese Gesellschaft nimmt an, dass öffentliche Personen - oder irgendwer - nicht "Fick dich" sagen dürfen, deshalb: Fick diese Gesellschaft.

Das Leben, so wie ich es mir vorstelle, dreht sich darum, das zu tun, was man will, für sich und seine Angehörigen zu sorgen. Es geht nicht darum, hohe Berge zu erklimmen, oder in die Tiefsee zu tauchen, sondern auf einem Bett so zu schlafen, wie es dir passt. Ich finde auch nicht, dass es schön ist, sich etwas aufzuheben, im Gegenteil: Auch Scheitern ist schön! Ich mag noch viel mehr Dinge als nur Schreiben und Rennfahren, und mache auch viele andere Sachen, in manchen bin ich nicht gut genug, in manchen kacke ich ab, und wenn ich mit Freunden rede, sage ich direkt: "Diese Sache finde ich toll, aber ich tauge nicht dafür, ich mach mich lächerlich dabei. Ich hasse es, wenn Leute sagen: "Wenn ich das tun würde, ich wäre sicher besser als X oder Y." Hau doch ab. Du siehst mich auf der Bühne einmal glänzen, im Training kack ich zehnmal ab, na und? Ich bin ja nicht gestorben dabei, solange man immer weitermachen ist das cool, die Leute werden sich nur an das eine mal erinnern, bei dem es funktioniert hat.

Das Leben, so wie ich es verstehe, dreht sich darum, nah an den Sachen zu sein, die ich mag. Ich habe einmal in einem Fast Food Restaurant ein Mädchen gesehen, das mir gefiel, habe dann fünf Minuten gezögert und mich nicht getraut, mit ihr zu sprechen. Nach fünf Minuten ging sie, und ich bereue es bis heute. In jenem Moment war ich ein Idiot, wäre ich hingegangen, was hätte passieren können? Im schlimmsten Fall wäre ihr Freund vom WC zurückgekommen. Am Tag, an dem ich sterben werde, werde ich bereuen, dass ich nicht hingegangen bin, werde bereuen, dass ich andere Sachen nicht gemacht habe. Da ist es doch viel besser, prahlen zu können über die Sachen, die man gut gemacht hat und über die Male lachen zu können, bei denen man versagt hat. Jetzt mache ich genug Sachen, bin mit meiner Familie, meiner Frau und meinen Kindern zusammen, jedes Jahr gegen zwanzig Rennen, habe angefangen, einen neuen Roman und einen Reisebericht zu schreiben. Abgesehen von Fotoshooting für ein Magazincover ist, habe ich wirklich keine Lust, mich für irgendjemand zu verbiegen, und Thale erst recht recht keine Lust, mir Gedanken über Image, Marktposition etc. zu machen. Wenn jemand keinen guten Eindruck von mir hat: Nicht mein Problem. Ich akzeptiere nur die Verantwortung für meine Werke, nicht für die Usererfahrung, es gibt auch keinen After-Sales Service und das Produkt wird sich auch nicht auf Kundenwünsche zugeschneiter. Solltest du es aber mögen, dann kommt die Sonne raus, wenn nicht, scheint sie trotzdem. Ich danke diesem Freund für seinen guten Rat und seine Designvorschläge, ich weiss dass ich wegen meinem Charakter und Lebensart Nackenschläge einstecken werde, in viele saure Äpfel beissen werde, aber wenigstens kann ich sagen dass ich die Dinge von kleinen Geistesblitzen bis zu grossen Idealen durchgezogen habe. Genau deswegen kann es sein, dass es in meinem Leben viele Rückschläge und viel Reue gibt, aber nur wenig, das mir leid tut. Freund, danke für alles was du mir gesagt hast, aber zu Lebzeiten kann man unzählige Male und auf tausend Arten die Herzen der Menschen berühren. Wenn ich es schaffe, ist es mein Glück, schaffe ich es nicht, ist es kein Unglück. Aber in einem Punkt gebe ich dir Recht, Freund: Von nun an, ganz egal wie eilig ich das Haus verlasse, werde ich den Hosenschlitz immer gut zumachen!

Freitag, 6. Juli 2012

Für Leslie Cheung

Im Winter welken die Blumen, in der Wärme des Frühlings erblühen sie, Menschen verlassen uns, und Menschen kehren zurück. 

Der erste Länge Weibo Eintrag, gewidmet meinem Idol.

Am 1. April 2003 war ich mit dem Auto unterwegs von Peking nach Shanghai. Davor war ich kein Fan von dir, ich wusste nur, dass du 倩女幽魂 gesungen hattest. Ich fand sogar, du hast aber schon lange nichts mehr von der hören lassen, kein Album herausgebracht, dachte, du hättest die Herzen der Menschen verloren.

Auf dem Abschnitt durch Shandong der Peking-Shanghai Autobahn begann ich dich tiefer zu verstehen. Dies ist eine Landschaft aus hartem Stein, man sieht kaum Grün. Wenn ich früher durch HebeiShandong und Jiangsu fuhr und das Radio aufdrehte, wenn darin nicht gerade Aphrodisiaka verkauft wurden, dann Kuren gegen Geschlechtskrankheiten. Dazwischen eingestreut Anrufe angeblicher Patienten, die behaupteten, die Wirkung sei grossartig, und wo man es genau kaufen solle. Ich fragte mich häufig, wie irgendjemand auf eine solch durchsichtige Verarsche reinfallen konnte. Diese Welt muss wirklich von Verzweiflung erfüllt sein. Doch dieses Mal, egal auf welchen Kanal ich umschaltete, es ging um dich und deine Lebensgeschichte, und natürlich um Lieder die du sangst. Manchmal konnte ich mich sogar dabei ertappte, ab und an einige Takte mitzugrölen ohne die Melodie zu beherrschen. Ich kannte die Lieder, und erst jetzt wusste ich, dass es deine waren. Auf der Höhe von Linyi begann sogar der Radiosprecher "奔向未来的日子" (Den Zukunftstagen entgegeneilen) zu singen.

Für dich gibt es jetzt keine Zukunftstage mehr, du lebst nun in den Tagen, die nicht Zukunft sondern Ende sind. In jenen Tagen war ich ein ausschweifender, nichtswissender Jugendlicher, für die sogenannten Superstars aus Taiwan und Hong Kong hate ich nur Verachtung übrig, und dadurch hatte ich dich verpasst. In jenen Jahren war ich in Peking, verloren wie ein Autofahrer in dichtem Nebel, so lebte ich. Es war Glück, dass ich nie auf die falsche Spur der Autobahn fuhr. Als ich dich verstanden hatte gab war es bereits zu spät um an dein Konzert zu gehen. Hätte ich jetzt die Möglichkeit, egal ob ich Geld hätte oder nicht,ich würde ein Ticket für die erste Reihe kaufen. 

Ich will dir nicht schmeicheln. Ich denke sogar, lebtest du noch, und die Gelegenheit ergäbe sich, so möchte ich mit dir eine Mahlzeit teilen und ein wenig plaudern. Jene Reise von Peking nach Shanghai war magisch, auf der anderen Seite der grossen Brücke über den Yangtse angekommen ging ich zum nächsten Rastplatz, ass eine Schale Instantnudeln. Ich erinnere mich, dass das Rauschen des Flusses direkt neben mir hören konnte. Ich kaufte mir zwei deiner Alben, leider gab es nur Raubkopien. Ich fuhr wieder los und schob deine CD in den Player.

Leider konnte ich dich nicht hören, da ich dummerweise Video CDs gekauft hatte. Ich war war immer näher an meinem Heimatort. Auf 1200 Kilometern hatte ich für dich keine Tränen vergossen, schliesslich hatten wir uns erst kennengelernt, das musst du verstehen. In Shanghai angekommen kamen meine Freunde immer wieder auf dich zu sprechen. Manche waren trauerten still, manche weinten, aber die meisten waren etwa so: Oh, echt. Schräg, der hatte doch so viel Geld, warum sollte der sich umbringen? Schade. Es gab auch welche, die böse gegen dich stichelten - bis heute kenne ich Leute, die sagen, dass du eine unheilbare Krankheit gehabt hättest oder etwas anderes getan hättest, und nur deshalb in den Tod gesprungen warst. Jedes Mal streite ich mit ihnen darüber. Einen Monat später, am Tag der Arbeit, an dem wie immer keiner arbeiten mochte, zwei Monate später, am Tag der Kinder, die wie immer lachten und kreischten, nach drei Monaten, nach vier Monaten, ein Jahr danach am Gedenktag, bis jetzt, neun Jahre später, hat sich diese Welt nicht geändert. In diesen neun Jahren hast du mich durch viele schwere Zeiten begleitet, es ist schade, dass deine Lieder, die mich angespornt haben, dir selber keine Kraft mehr geben konnten. 

Ich denke, ich habe dich jetzt verstanden, Leslie. Diese Welt vor unseren Augen ist nicht so, wie wir beide uns sie vorstellen. Du konntest sie nicht ändern. Und ich kann sie nicht ändern. Dieses Jahr werde ich dreissig, ich habe nicht so viele Werke geschaffen wie du. Du bist von uns gegangen, aber deine Lieder können von den Leuten noch in dreissig, fünfzig, ja hundert Jahren gesungen werden. Sollte ich sterben, dann mögen sich in fünf Jahren noch ein paar Leute an meine Schriften erinnern, aber in zehn Jahren kaum noch jemand. Vielleicht werde ich viel länger als du leben, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht werde ich mal ein alter Sturkopf sein, vielleicht werde mein Alter aber auch gar nicht erleben. Wer kann das wissen.

Leslie, in vielen Jahren werden wir uns treffen. Meine Errungenschaften werden sich nicht mit deinen messen können, aber auch nicht nichts: Es wird genug sein, um darüber zu sprechen. So wie bei dir werden viele Kontroversen erst nach dem Tod verstummen, oder vielleicht noch nicht mal dann. An dem Tag, an dem wir uns treffen werden, ich hoffe, es stört dich nicht, werde ich dir einen Liedtext schreiben. Es wird ein guter sein, aber ich fürchte, du wirst in Mandarin Chinesisch singen müssen. Du sagst, du hättest dein ganzes Leben lang nichts Böses getan, warum ist das so? Ich denke, ich kann dir sagen warum. Weil du dein Leben lang nichts Böses getan hast, einfach so.

Dienstag, 26. Juni 2012

Han Han: Ja, dann bin ich halt ein stinkender Intellektueller! 韩寒:就要做个臭公知!


Öffentlicher Intellektueller, dieses Wort stinkt mehr und mehr, sein Gestank kann sich schon bald mit demjenigen des Wortes Intelligenzija (Kampfbegriff in der Kulturrevolution, als Intellektuelle verfolgt wurden). Dass dieses Wort derart in den Dreck gezogen wurde war eine Sache dieser letzten zwei Jahre. Man denke zurück an früher: Viele Zeitschriften wählten den Intellektuellen des Jahres, auch ich kam einmal in den Genuss dieser Ehre. Aber, ich weiss nicht wann genau, aber plötzlich wurde dieses Wort zu einem Schimpfwort. Sogar wenn beide Debattanten offensichtlich öffentliche Intellektuellen waren, mitten in der Debatte konnte einer der beiden unvermittelt den anderen einen "öffentlichen Intellektuellen" nennen. Die Gegenseite, mit diesem Vorwurf konfrontiert, ergab sich ohne Diskussion in die eigene Niederlage, das war noch besser als "Das Gegenüber fährt im BMW mit Swag davon". Danach wurden alle noch klüger: Nun behauptete jeder, die "Graswurzeln" zu vertreten, keiner war mehr ein Intellektueller. Doch bald merkte man, dass es halt doch nicht so interessant ist, zweien Graswurzeln beim beim Debattieren zuzuhören, denn schliesslich ist "Graswurzel" ja nur ein Euphemismus für Shitizen, den ewig verarschten Kleinbürger. Wenn sich da zwei gegenseitig ankeifen, verlieren sie doch nur beide, der Rest geht weiter. Deshalb kam bald ein neues Wort auf: Meinungsführer. Und wieder dauerte es nicht lange, da wimmelte es in den Internetforen von Meinungsführern. Bei jedem öffentlichen Vorfall*, da reihten sich die "Meinungsführer" wie auf Befehl in einer Reihe auf, da sieht man doch lieber NBA. Da betrat mit breiter Brust und Durchschlagskraft wie ein Vorschlaghammer das Wort "Bürger" die Bühne, als "Bürger-Intellektueller" (公共知识分子), später vereinfacht als Öffentlicher Intellektueller (公知). Dieses Wort ist sicher**, und es kann nicht so leicht in den Dreck gezogen werden - obwohl es natürlich auch bei diesem Wort einige versucht haben, indem sie sagen: Was, Bürger, die sind doch auch nach Erfolg und höheren Ehren aus, Poser in geschmacklosem Aufzug. Schliesslich wussten die meisten Leute beim besten Willen nicht mehr, wie man diese Leute nennen sollte. Der Gestank des Ausdrucks "Öffentlicher Intellektueller" hängt in nicht geringem Masse auch mit demjenigen des Wortes "Allgemeinwissen" zusammen, Intellektuelle haben tatsächlich genug Macken und Charakterschwächen, viele sind dogmatisch, viele aalglatt, lüstern, planlos, opportunistisch, oder geschwätzig, manche sind grob, angeberisch, rückgratlose Windfahnen, jederzeit bereit, sich in Gruppen zusammzurotten um eine neue Sau durch die Strassen zu treiben. Manche lieben die grosse Pose, manche sind charakterschwach, bei vielen stimmen Worte und Taten nicht überein, manche lieben Panikmache, viele sind partikularistisch, greifen an, wer zur anderen Gruppe gehört und heissen alles gut, was aus der eigenen Gruppe kommt. Dann treten solche Leute vor Kameras, reden in Mikrofone, geben ihren Senf zu jedem möglichen Thema, pausenlos, und im grellen Rampenlicht treten dann auch ihre Unzulänglichkeiten nur immer klarer zutage und nerven die Zuschauer. Doch wenn wir einmal darüber nachdenken: Trifft das nicht auf die führenden Persönlichkeiten aller Branchen zu? Man regt sich ja gerne über die sexuelle Freizügigkeit im Show-Biz auf - oder ergötzt sich daran, aber es gehe doch jeder mal durch sein Büro und schaue sich genau um: Ist es wirklich so viel besser? Die Geschichte lief bestimmt so ab: Die Öffentlichen Intellektuellen und Meinungsführer erhoben ihre Stimmen, sprachen vielen Leuten aus dem Herzen, was die Leute natürlich schön fanden. Aber nach einer Weile langweilten sie sich ab dieser sich endlos im Kreis drehenden Debatten. Dass die sich endlos wiederholen lag aber weniger an den Debattierenden als an der Regierung, die immer wieder dieselben Fehler und Skandale produziert, die dann jedesmal besprochen werden müssen. Plötzlich ging jemand ein Licht auf, und er schrie es laut hinaus: Die öffentlichen Intellektuellen sind doch alle reich und berühmt - so gut sind die auch wieder nicht - sie leben auch von Politik und Emotionen. Öffentliche Intellektuelle stinken!

Ich habe Freunde, die es nicht mögen, wenn sich Öffentliche Intellektuelle, die als Literati angefangen haben, die Gesellschaft kritisieren. Er findet es aufgesetzt und es wiederholt sich wie eine schlechte Filmszene, die immer und wieder abgedreht werden muss. Er hört viel lieber auf Geschäftsleuten, die es zu etwas gebracht haben. Er folgt Leuten wie Li Kaifu (Gründer und erster Präsident von Google China), Wang Ran (Gründer einer der führenden Chinesischen Investmentbanken) und Pan Shiyi (Immobilienhai) auf Weibo. Ihre Posts leitet er täglich weiter, und ihre Schreibe findet er mindestens so gut wie die der Schriftsteller und Journalisten. Ausserdem sind sie viel näher an den Realitäten der modernen Welt und ihr Tonfall ist auch viel angenehmer. Aber am wichtigsten: Sie sind bereits reich und brauchen sich deswegen nicht mehr zu verstellen. Beim Essen kam aber ein anderer Freund mit einem Hintergedanken darauf zu sprechen: "Das muss nicht sein, gerade wenn der Mensch Geld hat, beginnt er Wert auf seinen Ruf zu legen. Ich glaube, ihre Motive sind nicht rein, auch sie leben davon, sie sind nichts als eine andere Sorte stinkender öffentlicher Intellektueller. Obwohl mein Freund gegen diese Interpretation ankämpfte gab er bald auf und Tags darauf retweetete er nur ein paar zynische Witze. Er beruhigte sich erst nach ein paar Tagen. Ein anderer Freund mag Yao Chen (Schauspielerin, bekannt u.a. durch Feichengwurao). Er findet dass sich im Showbiz nur wenige um das wahre Leben kümmern, und dass sie sich häufig für die Schwachen einsetzt. Viele andere beeindruckt das gar nicht: Das kann ja auch wohlgeplant sein, um sich von anderen Stars abzugrenzen, sich eine Marktnische zu schaffen: Eine stinkende öffentliche Intellektuelle.

Ich habe einen Freund, der mag XXX***, findet XXX krass. Andere widersprechen natürlich, finden, dass XXX auch nur eine Pose durchzieht, je mehr er sabotiert wird, desto höher sein Status und sein Einkommen. Er ist wohl mehr als ein Stinkender Öffentlicher Intellektueller - nämlich die 2.0 Version.

Natürlich gibt es auch welche, die von mir sprechen. Als ich im Untergymnasium Aufsätze schrieb, gefiel es mir, dieses und jenes zu kritisieren. Ich hatte keine klaren Vorstellungen, aber alle prägenden Bücher meiner Jugend stammten aus der Zeit der chinesischen Republik, und so fühlte ich tief in mir, dass Aufsätze dazu da sind, Sachen zu kritisieren. Ein auch aufs Schreiben versessener Mitschüler könnte von anderen Büchern geprägt gewesen sein, deshalb konzentrieren sich die einen auf die reale Welt, andere auf Astrologie. Das ist alles cool. Obwohl mein erstes Buch ein grosser Erfolg war, wurde ich unverdienterweise durch meine Blogposts und Aufsätze berühmt. Mit so ein paar Artikeln verdiene ich noch nicht einmal schlecht, ich werde sogar öfters verdächtigt, ein 50-Centler**** zu sein. Ich bin dann wohl die 3.0 Ausgabe. 

Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass jeder, der nicht auf offener Strasse geprügelt wird, dessen Leben nicht nur armselig ist, allen Arten von vernichtender Kritik begegnet. Zugespitzt gesagt: Wenn es nicht aufgesetzt ist, dann ist es ein 50-Centler, und mit Sicherheit ein Profiteur von der Politik und der Aktualität. Und sobald sich diese Intellektuellen einmal nicht einig sind, giften sie sich gegenseitig an und geben den Leuten den Eindruck, dass sie doch alles Arschlöcher sind. Dabei schreiben die Leute selber immer besser, und so wurde aus dieser Auszeichnung ein Schimpfwort. 

Wenn es nun schon so ist, habe ich verstanden, ganz egal ob ich es verneine oder bejahe, oder sogar eine neue Bezeichnung für mich selber suche: Ich bin einfach ein stinkender öffentlicher Intellektueller. Jemand sagte mal: Egal, welchen Namen man dieser Gruppe gibt, öffentliche Intellektuelle, Intelligentsia, Meinungsführer, Bürger: Wenn du alleine deine Stimme erhebst, dann ist es geschehen, der Ruhm ist deiner, was kümmerst du dich, ob er stinkt oder wohlriecht. Aber so kann ich nicht denken, und wenn ich auch völlig frei bin, frei wie ein Vogel: wie kann ich es akzeptieren, dass, während ich meine Kreise ziehe, plötzlich meine Art beleidigt wird, als stinkend verschreien ist? Und dass dann jemand auf mich zeigt, und sagt: schau, eine streunende Gans*****? Natürlich hängt das damit zusammen, dass wir uns häufig streiten und uns dann untereinander als Gänse beschimpfen. Dazu kommt, dass die Hühner, die alles beobachten und die Schweine, die die Verwaltung besorgen sich ungemein darüber freuen, wenn unsere Art schlecht aussieht. Für mich sind "Intellektueller", "Öffentlicher Intellektueller" oder "Intelligentsia", egal zu welcher Zeit alles positiv besetzte Worte, wir sollten diese Worte achten. Deshalb ist es schon eine Sünde, dass ich eines dieses Wörter im Titel dieses Blogposts mit dem Wort "stinkend" zusammengeschrieben habe. Im Gegensatz dazu war das Wort "Meinungsführer" noch nie positiv besetzt. Jedes Wort, welches das Wort "Führer" beinhaltet, führt irgendwann zum Ausrotten der Andersdenkenden.

Ja, ich bin ein öffentlicher Intellektueller, ich lebe von Politik, konsumiere die Aktualität und ihre Skandale und bin ein Profiteur der Staatsmacht. Natürlich kann jeder auch mich konsumieren, ohne Trinkgeld zu geben sogar. Wenn Staatsmacht von jedem gefahrlos konsumiert werden kann, wäre das nicht sogar noch besser, jeder würde sich um die heutigen Realitäten kümmern, jeder würde ihre Ungerechtigkeiten kritisieren, vergiftete Medikamente verurteilen und sich über dingfestgemachte korrupte Beamte freuen. Wenn es nur Pose ist, um Fans, Mädchen und Lob zu gewinnen: wenn schon. Wenn du der Regierung, der Staatsmacht und der Politik gegenüberstehst und nicht von ihnen lebst, dann leben sie wahrscheinlich von dir.

Zum Schluss, konfrontiert mit aller Art von Ungerechtigkeiten: niemand kann dich vertreten. Du musst selber zur Tat schreiten. Seit das Internet immer mehr Menschen die Teilnahme am öffentlichen Diskurs ermöglicht ist es nur normal, dass diejenigen, die früher für die Menschen ihre Gedanken formulierten, nun keinen Platz mehr haben. Dass einige von ihnen aufgegeben wurden, bedeutet nicht, dass die ganze Institution aufgegeben wird: Ein Freund hat vor ein paar Tagen einen Post über Nahrungssicherheit geschrieben, im Stile eines öffentlichen Intellektuellen. Und siehe, der Post wurde mehrere Tausend male rettetet. Nun jubiliert und findet nun, diese Öffentlichen Intellektuellen sind so besonders auch nicht, was die tun, das kann er auch. Das ist der Prozess des gesellschaftlichen Wandels. Wir brauchen nicht die Öffentlichen Intellektuellen als solche zu verstossen, sondern wir sollten uns gegenseitig ermutigen, selber welche zu werden!

*diese gibt es in China immer wieder, von Bildern von Beamten mit Luxusgütern und Mätressen zu Korruptions- und Skandalen wegen verseuchter Lebensmittel.
** d.h. unwahrscheinlich, von der Zensur beanstandet zu werden.
*** vielleicht Ai Weiwei? Ein Name aus drei Schriftzeichen, und die Beschreibung macht Sinn.
**** 五毛:50 chinesische Cent: Von der Regierung mit 50 Cent pro positivem, die Regierung lobenden Post bezahlt.
***** Gans bezeichnet in China einen Stricher oder Toyboy.

Montag, 21. Mai 2012

Han Han: Schande // 韩寒:为止


Schande

Vor dem ersten Mai, dem internationalen Tag der Arbeit sollte es noch Tag des Gedenkens, der nur China gehört geben. Am 29. April 1968 wurde Lin Zhao* erschossen. Viele junge Leute heutzutage kennen noch nicht einmal ihren Namen. Das Leben ist kurz, und Freiheit kennt keinen Preis. Die Geschichte hat ihr Unschuldsurteil verkündet, aber davor hat die Geschichte bereits fünf Mao Erschiessungsgebühr von ihr kassiert. Die Kugeln sollten zur Schande bis ins Hier und Jetzt fliegen.

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* Intellektuelle, die während der 100-Blumen-Bewegung die KP kritisierte. Während jener Bewegung hatte Mao zu Kritik aufgefordert, viele der Kritiker wurden später aber verhaftet, so auch Lin Zhao. 1968 wurde sie nach acht Jahren im Gefängnis von einem Erschießungskommando hingerichtet.



Murong Xuecun, Wang Xiaoshan, Shi Feige, Ciao Han,Yu Xinqiao und He Bing** , gelöschter Kommentar eines gelöschten Kommentars, verbotene Worte über verbotene Worte. Der Satz ist so wahr wie zuvor: Der wesentliche Klassenkonflikt im heutigen China ist der Widerspruch zwischen der täglich tiefer sinkenden Moral unserer Regierungsbeamter und unser aller täglich steigenden Intelligenz. Wer hätte gedacht, dass die Lösung dieses Widerspruchs nicht in der Hebung der Moral unserer Regierenden liegt, sondern im Abwürgen der Stimmen der letzteren? Bewahrt die Erinnerung an und Unterstützung für diese Blogs! [Dieser Blogeintrag ist konsequenterweise bereits gelöscht worden.]


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** Bekannte öffentliche Intellektuelle, die mit ihren regierungskritischen Kommentaren öfters die Grenzen des Erlaubten überschreiten.

Mittwoch, 16. Mai 2012

Han Han: Der Wind des Pazifik

Ein interessanter Blogpost von einem jungen, aber großen Schreiber: Han Han.


Als Flug 320 aus Shanghai auf der Landebahn am Taoyuan International Airport in Taiwan aufsetzte weckte mich die Vibration auf. Passenderweise spielte mein Smartphone gerade "Xixue" von Zhang Aijing, einen Song den man selten hört. Chen Sheng hat geschrieben: "1948 verliess ich den Menschen, der mir am meisten in der Welt bedeutete. Als der Zug anfuhr tanzten einsame Schneeflocken am Himmel des Nordens. Hätte ich gewusst, dass dies ein Abschied für 40 Jahre sein würde, ich wäre geblieben". Mein erster Eindruck von Taiwan ging lange nicht über den hinaus, den die Filme von Hou Xiaoxian und Yang Dechang bei mir hinterliessen. Nur Wei Desheng und Jin Badao haben ihn noch ein wenig zurechtgerückt. Die Schriftsteller die ich mag, Liang Shiqiu, Lin Yutang und Hu Shi sind alle nach Taiwan gegangen, und haben sich auch alle mit Lu Xun gestritten.

Als das chinesische Festland arm hatte Taiwan schon Geld, und als das Festland dann Geld hatte - oder besser gesagt, als die Regierung und ein paar wenige andere Geld hatten - da hatte Taiwan schon… [diesen Satz beendet er wohlweislich nicht]. Als sich der Pulverdampf verzog, fand sich das chinesische Volk geteilt, auf beiden Seiten einer Meerenge; die Wunden, die dies in viele Familien schlug sind mittlerweile vernarbt. Die Strassen Taipehs sind wirklich so wie sie Youkelilin in seinen Songs beschreibt, wie ein Labyrinth breiten sie sich vor mir aus. Doch für einen Fremden ist ja jede Stadt ein Labyrinth.

Ich komme im Hotel an, gleich daneben ein Filiale der Buchkette "Ehrliche Ware", 24 Stunden am Tag geöffnet, mit angeschlossenem Barbetrieb. Mein Freund brauchte eine neue Brille, deshalb abends erstmal eine machen lassen. Wir nahmen ein Taxi ins Universitätsviertel und betraten dort ein Optikergeschäft. Keine Verkäuferinnen die mit dummsüsser Stimme die Kunden einlullen sollen wie man sie auf dem Festland immer trifft, der Besitzer verkauft selber. Eine Brille gefiel meinem Freund besonders, doch es würde ein paar Tage dauern bis er die fertige Brille abholen könnte. "Vergessen wir's" meinte mein Freund, "ich bin nur drei Tage hier und brauche die Brille morgen, nicht erst in ein paar Tagen." Da passierte etwas erstaunliches: Der Geschäftsinhaber fummelte eine Schachtel Kontaktlinsen unter der Theke hervor, legte sie in die Hände meines Freundes mit den Worten: Bitte verzeihen Sie dass ich Ihnen nicht helfen konnte. Ich gebe Ihnen die hier mit, als Übergangslösung." Sogar ich, der immer versucht, das Beste von den Menschen anzunehmen, war erstmal sprachlos. Mein Gott, wo gibt es noch so gute Menschen? Da muss es doch einen Haken geben, können wir nun wirklich einfach so gehen?

Aber dann verliessen wir das Geschäft in aller Ruhe und fanden ein anderes Optikergeschäft gleich in der Nähe. Dort versprach man uns, dass die Brille bis zum nächsten Tag schon fertig sein würde, und danach suchte der Inhaber ein Gestell aus, in dass er die kaputten Gläser meines Freundes notdürftig einpassen konnte, damit er diesen Abend eine Brille habe. Das waren zwei völlig normale Optikergeschäfte, zufällig ausgewählt. Doch man könnte meinen, das sei alles sorgfältig arrangiert worden, damit wir Festlandchinesen einen besseren Eindruck von Taiwan kriegten.

Auf den Strassen Taiwans finden hier und da kleine Demonstrationen statt und es hängen Protestplakate an Hauswänden. Für die meisten Festlandtouristen ist das ungemein aufregend, weshalb die meisten Abends im Hotel bleiben und im Fernsehen Politdebatten kucken. Als meine Mutter letztes Jahr von einer Taiwanreise zurückkam fand sie das ungemein aufregend: Politiker beschimpfen sich ungehemmt im Fernsehen, das ist besser noch als "Happy Camp" (eine Game-Show mit Prominenten, die in China in ihre 15. Saison geht). Und die Taiwaner sehen darin schon gar nichts besonderes mehr. Doch was mich noch mehr beeindruckte als Herr Ma Yingjiu (letztes Jahr im Amt als Präsident Taiwans bestätigt) war Herr Wang Songpeng. Das ist kein berühmter Politiker, auch kein Künstler und kein Publizist. Er ist Taxifahrer. Einmal kam ich am morgen aus dem Hotel und nahm sein Taxi zum Yinming Berg. Dort angekommen merkte ich, dass ich mein Handy im Taxi verschusselt hatte. Das Kennzeichen des Taxis hatte ich mir natürlich nicht gemerkt. Meine Freunde suchten die Nummer des Taxi Unternehmens raus, vielleicht könnte man ja so was erreichen, Ich rief das Hotel an, vielleicht wäre auf den Bildern der Überwachungskamera ja das Autokennzeichen erkennbar. Nach ein paar Minuten kam der Rückruf, ich fragte: "Na, konnte man etwas erkennen?" - "Nein, das Video der Überwachungskamera ist viel zulang, viel zuviele verschiedene Taxen. Aber gerade kam ein Taxifahrer vorbei und hat ein Handy abgegeben, er meinte, das hätte ein Hotelgast in seinem Taxi zurückgelassen."

Ich war versteinert. Ich fragte nach der Telefonnummer des Fahrers und nach seinem Namen, ich möchte mich bei ihm bedanken. Herr Wang Songpeng meinte, das sei doch nicht nötig, das sei doch nichts besonderes, wir machen das alle so. Vor ein paart Tagen sei er mit ein paar Freunden rund um die Insel gefahren, und sie planten nun, eine Reise aufs Festland zu unternehmen. Das sei ja der Grund, warum er Taxi fahre, um an möglichst viele Orte zu kommen, viel zu sehen. Zum Schluss meinte er noch, "Ich habe QQ (eine Mischung aus Skype und ICQ, beliebt in China) und Weibo (der chinesische Twitter-Klon), was ist Ihre Nummer, damit wir online in Kontakt bleiben können? Da schien die Distanz zwischen den Chinesen auf beiden Seiten der Strasse von Taiwan plötzlich ganz klein. Dann meinte er noch: Haben Sie denn auch Facebook? Ich: "Auf dem Festland gibt es kein Face… bog". Er: "Oh, ach ja… Okay, sprechen wir ein andermal, ich hab Kundschaft!"

Vielleicht hatte ich ja einfach Glück, dass ich nur gute Leute treffe, vielleicht kenne ich sie nur oberflächlich, aber sie waren fast alle freundlich. Kein Zweifel, würde ich noch ein paar Tage in Taiwan bleiben, würde ich sicher auch unschöne Seiten der Insel und ihrer Menschen kennenlernen, vielleicht würde die primitive Seite durchbrechen, und die Ressentiments der einfachen Leute würden mit ihnen durchbrechen. Es gibt keinen perfekten Ort, kein perfektes System, keine perfekte Kultur, und innerhalb des chinesischen Kulturkreises mag Taiwan kein Ideal sein - aber es gibt nichts besseres.

In diesem Blogeintrag will ich keine Politik- und Systemdiskussion führen. Für einen Schriftsteller aus dem Festland fühle ich mich einfach verdammt verloren. Dieses Gefühl von Verlorensein kommt aber nicht wegen ein paar Tagen Sightseeing sondern ist ein Gefühl, das immer schon in mir war. Ich bin verloren in der Umgebung, in der ich lebe, die ersten Jahrzehnte war blutiger Kampf die Parole, danach wurden wir zu Gier und Egoismus aufgerufen, deshalb tragen viele von uns diesen Samen der Leere in uns: Ich bin verloren auf dem Schlachtfeld, auf dem die vorherige Generation die Kultur und damit auch jene traditionellen Tugenden zerstört hat, das Vertrauen zwischen den Menschen, Glauben und Konsens und trotz all der Beteuerungen keine neue, bessere Welt anstatt der alten aufgebaut hat. Als Nachhut ist man ratlos: Kann man das noch reparieren, neu aufbauen - oder doch besser vollends zerstören; Ich bin verloren ob der Frage, ob die Generation nach uns in einer Umgebung gegenseitigen Verständnisses oder des sich gegenseitig verletzens aufwachsen wird. Ich bin verloren, da ich als Schriftsteller beim Schreiben dieses Blogeintrags ständig die Wörter hin- und herwende, die einen verwerfe und andere benutze, damit ich nie diese unsichtbare Linie überschreite; Ich bin verloren, denn jedesmal wenn jemand etwas Guten tut ist mein erster Gedanke: "Könnte da nicht eine finstere Absicht dahinter stecken?". Ich fühle mich verloren, da die Werke von uns Festlandschriftstellern kaum je in Taiwan gelesen werden, und wenn etwas übers Festland in Taiwan Resonanz hat, dann diese Geschichtsbücher und Gesellschaftskritik, und das schlimmste ist noch, dass wir Festlandchinesen uns auf diese Publikationen, die es bei uns nicht gibt, stürzen müssen, um mehr über uns selber zu lernen. Abgesehen vom Profit und vom unablässigen Kampf gegen unsere Mitmenschen lässt uns alles nur noch kalt. Ereignisse und Nachrichten aus unserem Land, die dieser Kälte und Absurdität entspringen machen Schlagzeilen in Zeitungen überall auf der Welt. Obwohl diese Ereignisse eigentlich Fehler unserer Führung darstellen, so sind sie Leier doch zu Fussnoten unserer Kultur geworden.

Ja, ich möchte Hongkong und Taiwan danken. Nur weil sie der chinesischen Kultur Schutz geboten haben konnte sie ihre schönen Traditionen tradieren, wie der Lebensfunke eines Baumes, der in den Wurzeln schlummernd eine Feuersbrunst überleben kann, um dann neu auszutreiben. Nicht dass Hongkong und Taiwan über jeden Zweifel erhaben wären. Wir aber, obwohl es bei uns nun Ritz Carlton und Peninsulas gibt, Gucci und Louis Vuitton, aber die Frauen unserer Bezirksbeamten sind reicher als die Minister in Hongkong und Taiwan, obwohl wir Blockbuster drehen, die bei ihnen für 20, 30 Filme reichen würden, die Olympischen Spiele und Weltausstellungen, mit denen wir protzen werden sie sich nie leisten können. Doch auf all dies kann ich nicht stolz sein wenn ich Taiwans Taxifahrer, Nudelshop-Besitzer und Passanten sehe. Was immer wir haben, sie haben es auch. Die Statussymbole auf die wir so gerne verweisen wollen sich die Steuerzahler Taiwans und Hongkongs nicht leisten, dafür haben sie sich das bewahrt, was wir verloren haben. Und genau die Dinge, die Menschen am meisten Würde und Stolz geben können, die fehlen uns. 

Kultur, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit sind alles, was ein Volk ausmacht. Keine Land verdient sich den Respekt der anderen, indem es wie verrückt Supersportwagen und Schnellboote aufkauft. Wieder im Flugzeug, auf 20'000 Fuss Höhe, nur eine halbe Stunde vor Shanghai geht mein Blick zum Fenster hinaus und sieht nichts als Wasser. Wenn wir doch schon den Wind des Pazifik teilen, dann soll er doch auch alles andere zu uns herübersehen!

Das Original findet man hier: 

Montag, 7. Mai 2012

Die Geschichte des Blinden, selbstgelernten Anwalts. I


Wer hat in den letzten Tagen nicht mit dem Schicksal des blinden, selbstausgebildeten Anwalt Chen Guangcheng mitgefiebert?
Interessante Artikel zum Beispiel:
und im Tagi:
Vor ein paar Monaten schon hatte ich in einem Chinesischen Blog (hier)einen langen Post über seine Geschichte gelesen, die mich tief beeindruckt hat. In den vielen Artikeln in der westlichen Presse der letzten Tage waren die Hintergründe zu kurz gekommen - deshalb hier  haben mir die Übersetzung des chinesischen Blogs.
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Mein erster und tiefster Eindruck von Chen waren seine Hände. Unter Straßenschild Nummer 129 an der Hauptstraße von Peking nach Linyi. Um drei Uhr früh stieg ich aus, und ein paar warmer Hände hielten mich fest. Wenige später hielten mich diese Hände wieder und zeigten mir sein Dorf. Für einen Blinden sind seine Hände die einzige Möglichkeit, in direkten Kontakt mit einem anderen Menschen zu treten. Mit seinen Händen drückt er drückt er seine Gefühle aus: Wenn er seine fünf Finger mit deinen verschränkt, zeigt er einem, dass er vertraut, wenn er mit mehr Kraft zudrückt, dann unterdrückt er eine innere Wut, ein leichtes tätscheln bedeutet Zustimmung, und wenn seine Finger die Umrisse deines Gesichtes ertasten, dann sagt er: „Was für ein Mensch bist du?“. Und seine Hände sind immer warm...
Der Blinde Junge, der Vogelnester ausraubt
Chen ist geboren und aufgewachsen im Dorf Dongshigu in der Provinz Shandong. Als er ein Jahr alt war befiel ihn ein hohes Fieber. Mutter musste die Familie versorgen und konnte sich nicht, sie buk Brot für die Großfamilie und konnte sich nicht vom Herd losreißen. Sein Vater rang hilflos seine Hände und könnte nichts anderes tun, als seinem Kind beim Weinen zuhören – eine ganze Nacht lang. Für Chen gab es kein Sonnenlicht mehr nach dieser Nacht, nie mehr. In diesem Abgelegenen Dorf in den Vorbergen, auf beiden Augen blind – und doch war er einer der schlimmsten Lausbube des Dorfes – und ein talentierter Eierdieb! Er sagte den andern Kindern, sie sollten vom Boden aus mit Bambusstücken gegen das Vogelnest schlagen, und er kletterte auf den Baum, und folgte dem Zwitschern der verängstigten Küken zum Nest – er fand die Eier jedes mal. Schon lange erwachsen, fragen ihn seine Freunde aus jenen Tagen manchmal: „Na, Chen, wann gehen wir wieder Fische fangen?“ Kein anderes Kind im Dorf konnte so gut Fische mit den Händen fangen wie er: „Ich sehe die Fische nicht, aber ich weiss, wo die Fische sein könnten, unter welchen Steinen es Fische hat.“
Seine Kindheit war glücklich, er half seinen Eltern bei der Weizenernte, fühlte die Veränderung der Ähren mit seinen Händen. Unglücklich machte es ihn, wenn einige Kinder ihn foppten, seine Blindheit ausnutzten, zum Beispiel indem sie ihm eine Kopfnuss verpassten und dann davonrannten. Seine Strategie war, in diesem Moment nicht zu reagieren, aber sich Stimme und Dialekt des Jungen zu merken – und wenn ihm dieser arme Trottel das nächste Mal nah genug kam, dann packte er ihn und verpasste ihm eine Tracht Prügel, die er nicht so schnell wieder vergessen würde. Wenn ihn die anderen Kinder schlugen und dann ins Lehre laufen liessen, dann standen die Erwachsenen nur daneben und sagten: Ach, lasst doch mal den blinden Jungen in Ruhe – taten aber nichts. Wenn er aber mal einen in die Finger bekam und ihm gab, was er verdiente, dann eilten sie herbei und trennten die Streithähne. Offensichtlich fanden sie es unbewusst ganz normal, dass blinde Kinder grundlos gequält werden. „Die Welt ist ungerecht“, realisierte Chen.
Einem Blinden bieten sich im Leben nur wenige Möglichkeiten. Erst als Chen 18 Jahre alt war, besuchte er die erste Klasse der Primarschule. Nur mit Glück entkam Chen dem Schicksal, als Analphabet durchs Leben zu gehen, ein Glück, das die wenigsten Blinden haben. Sein Vater kannte die wichtigsten Schriftzeichen, und las ihm abends die alten Klassiker vor, über den Aufstand der Geächteten, und über die Intrigen während der Zeit der streitenden Reiche. Der ständige Kampf gegen das Unrecht in der Welt, das war ein Ideal, der sich ihm tief einprägte. In der Sekundarschule für Blinde sperrte der Rektor die Kinder in den Klassenzimmern ein, unter dem Vorwand, sie vor dem Straßenverkehr schützen zu wollen, durften sie die Schule auch in Pausen nicht verlassen. Die Schüler protestierten: „Uns einzusperren schützt uns eine Zeit lang – aber nimmt uns Chancen fürs Leben.“ Der Protest, organisiert von Chen, war erfolgreich.
Zu der Zeit gab es in ganz China nur zwei Universitäten, die  pro Jahr zusammen 40 bis 50 blinde Studenten aufnahmen. In den Augen der meisten Menschen waren Blinde außer als Masseure und als Wahrsager vor den Bushaltestellen zu nichts nütze.
Aber Chen ging seinen eigenen Weg, zurück in sein verarmtes Dorf. Er war ein interessierter Mensch, liebte es, zuhause über Politik und über das Weltgeschehen zu diskutieren. Immer mehr Leute kamen zu ihm, um Streitigkeiten schlichten zu lassen, wenn jemand ein Blumentopf auf den Kopf gefallen war, vom Hund gebissen wurde, oder wenn alte Leute sich von ihren Kindern nicht gut genug versorgt fühlten. Chen ging diese Fälle immer aus seinem persönlichen Gerechtigkeitssinn heraus an, doch als er einmal von einem Richterspruch in einem ähnlichen Fall hörte, da wurde ihm klar, dass das Recht mit seinem Empfinden vieles gemeinsam hatte. Er war fasziniert, liess sich von seinem Vater Gesetzestexte vorlesen und hörte Justizsendungen im Radio.
1991 trat in China ein Gesetz zum Schutz der Menschenrechte Behinderter in Kraft, von da an waren Blinde von der Bürde landwirtschaftlicher Abgaben und von Fronarbeit befreit. Doch das Gesetz war ein Papiertiger, in den Dörfern änderte sich gar nichts.
Die Schläger, von den Dorfvorstehern mit dem Eintreiben der Steuern beauftragt, scherten sich um keine Gesetze, das Recht des Stärkeren zählte. Sie steckten Zahlungsunwillige in Jutesäcke und knüppelten dann auf sie ein, bis sie sich nicht mehr bewegten, sie stemmten Türen auf um Häuser nach Wertsachen zu durchsuchen. Und Behinderte waren die leichtesten Opfer. Im Nachbardorf erlitt ein Taubstummer eine schwere Gehirnerschütterung. 1993 wollten sie bei Chen Steuern eintreiben, und er begann sich zu wehren. Er petitionierte vor der Dorfregierung, der Bezirksregierung, auf der Ebene der Stadt, Provinz – und schließlich beim Staatsrat in Peking, der höchsten Stelle des Landes, die ein Bürger anrufen kann. Drei Monate später standen Dorfbeamte vor seiner Tür, bezahlten ihm die bereits eingezogenen Abgaben zurück. Von nun an würde er sogar die ¥200 (ca. € 25) erhalten, die ihm zustanden. Die Freude währte nur kurz – bald darauf stellte er fest, dass die Dorfregierung einen großen Teil des Felds, das er gepachtet hatte, noch einmal weiterverpachtet hatte. Ohne sein Wissen, und die ¥ 240 an Pacht erhielt nicht er, sondern die Dorfregierung. Petitionieren ist zwecklos, musste Chen erkennen.
Lin, ein Blinder aus dem Nachbardorf suchte seine Hilfe. Weiterhin wurden von ihm Steuern und Abgaben eingezogen, man hatte ihn auch zu Fronarbeit auf dem Bau gezwungen. Als er sich weigerte, die Abgaben zu bezahlen, beschimpfte ihn der Dorfvorsteher über den öffentlichen Lausprecher, und die Partei entschied: „Blinder, alle bezahlen, und am Ende wirst auch du bezahlen!“.
Chen setzte für Lin die Klageschrift auf. Das Gericht entschied für Lin und gegen den Dorfvorstand. Dies war Chens erster Fall als Anwalt.
Viele merkwürdige Dinge passierten im Dorf. Um legal ein Kind zu haben, brauchte mein eine Geburtsbewilligung vom Familienplanungsausschuss. Dieser war verantwortlich für die Umsetzung der Ein-Kind-Politik und mit großer Macht ausgestattet worden. Eine solche Bewilligung aber wurde nur ausgestellt, wenn man eine Flasche „Wundermedizin“, von der keiner wusste, wozu sie gut war und wie man sie benutzte für 350 ¥ zu kaufen. Die meisten aber konnten sich diese Wundermedizin – und das Recht, Kinder zu haben – nicht leisten! Eine dieser Frauen, verheiratet und zum ersten Mal schwanger, also mit jedem Recht zu gebären, wurde vom Familienplanungsausschuss im 6.Schwangerschaftsmonat aufgegriffen. Ihr Kind sollte zwangsabgetrieben werden, um ein Exempel zu statuieren. Als Chen davon hörte, eilte er zum Ort des Geschehens, wutentbrannt schrie er: „Was ihr vorhabt ist ein Verbrechen, ein 6-monatiges Baby abzutreiben ist Mord, wisst ihr das eigentlich?!“ Erschrocken ließen die Leute vom Familienplanungsausschuss von ihrem Vorhaben hab.
Immer mehr Leute sahen in Chen einen Beschützer, sie dichteten ihm etwas übernatürliches, fast heiliges an. Er wehrte ab, er sei kein Schutzheiliger: „Diese Rechte habe nicht ich euch gegeben, diese Rechte hattet ihr immer schon!“
In der Nachbarsfamilie gab es einen Geisteskranken, die Nachbarsfamilie wusste sich nicht anders zu helfen, als ihn in einem nur wenige Quadratmeter grossen Schuppen einzusperren, und ihm jeden Tag etwas zu essen zu bringen. Selbst für diesen Mann aber hatte die Regierung während 10 Jahren Abgaben eingezogen. Chen warnte: „Wenn ihr weiterhin versucht, dieses Geld einzuziehen, dann wird der Richter davon erfahren!“ Solche Dinge passierten immer wieder, und Fall für Fall wurde Chen zum „Barfußanwalt“. Im ländlichen China bezeichnet man mit „Barfuß“ einen Menschen, der einer Tätigkeit nachgeht, für die er keine offizielle Ausbildung hat. Berühmt waren die „Barfußärzte“ der Mao-Zeit, die nach einer Grundausbildung in den Kreisstädten zum ersten Mal medizinische Grundversorgung in die Dörfer brachten.
Heute sagt Chen: „Solche Fälle lehnten die richtigen Anwälte in den Städten ab, sie konnten sie nicht annehmen, und die Bauern hätten sie auch gar nicht bezahlen können.“ 2001 schliesslich gab Chen seine Arbeit im Bezirkskrankenhaus auf, um sich nun vollständig der Vertretung seiner Mitbürger vor Gericht zu widmen. „Ehrlich gesagt: Die Leute, die ins Krankenhaus kommen, um sich massieren zu lassen sind sowieso alles irgendwelche Regierungsbeamte, die vom vielen Mah-Jongg spielen krank geworden sind.“ Wer nicht sieht, muss das zehn- und mehrfache in die Arbeit investieren. Wenn ein Sehender ein Protokoll liest, so muss ein Blinder sich die Aufnahme davon anhören. Was ein sehender mal eben mit dem Fahrrad abholt, dafür war Chen stundenlang zu Fuß unterwegs, auf Bergstraßen und über Schutthalden, und meist allein. Häufig verirrte er sich und fand erst mitten in der Nacht nach Hause. Einmal überquerte er eine Brücke und fiel ins Flussbett hinunter – hätte der Fluss nicht ein wenig Wasser geführt, es wäre sein Tod gewesen.
Die Gefahren der Natur waren real, aber sie verblassten vor den Gefahren die von den Menschen, denen er mit seiner Arbeit schadete ausging. Häufig gab es nächtliche Drohanrufe. Eines Nachts ging er auf einer menschenleere Landstraße, da hörte er hinter sich die Geräusche eines Motorrads, das ihm langsam folgte. Plötzlich beschleunigte es, raste direkt auf ihn zu – um im letzten Moment abzubremsen. Totenstille und Dunkelheit. Dann fuhr das Motorrad davon. „Wahrscheinlich ein angeheuerter Schläger, der im letzten Moment sein Gewissen spürte.“
Von 1992 bis heute bis heute waren Sitzungen, Einnahmen und Ausgaben von Dongshigu ein Geheimnis gewesen. Unter Chens Anleitung wählten zwei Drittel der Dorfbewohner nun sechs Vertreter, um die Dorfregierung aufzufordern, zurückzutreten, um eine neue Regierung zu bilden. Chen klebte 300 offene Briefe mit den Forderungen der Bewohner an die Regierung an die Wände des Dorfes und schickte Kopien davon an den Volkskongress und die oberste Staatsanwaltschaft in Peking. Darauf, am 4. März 2004 hingen 20 Plakate mit Bekanntmachungen in großen Lettern an den Wänden des Dorfes. „Blinder, wenn du das nächste Mal den Rücktritt der Regierung auch nur erwähnst, werden wir deinen Schädel einschlagen!“
Chen rief sofort den Polizeinotruf und schickte eines der Plakate als Beweis zum Polizeiposten. Es kam keine Antwort, niemand ging ans Telefon. Immer wieder rief er bei der Polizei an, über 10-mal, schließlich herrschte ihn jemand an: „Ruf noch einmal an, dann kommen wir vorbei und machen dich fertig!“. Der Dorfvorstand freute sich: „Nun sieht man, wer bei der Polizei das Sagen hat, wir oder Ihr!“ Dann wurden in einem Wäldchen, welches einem der sechs gewählten Repräsentanten gehörte, alle Bäume gefällt. Chen erhob Anklage gegen die Bezirkspolizei. Nach über einer Woche kamen dieselben Bezirkspolizisten ins Dorf – mit der Klageschrift, die er zur Staatsanwaltschaft geschickt hatte! „Wegen einer solchen Kleinigkeit wollt ihr Anklage erheben?“ Gefasst erwiderte Chen: „Für euch mag das eine Kleinigkeit sein, für uns bedeutet es viel! Ihr aber werdet vom Staat bezahlt, und ob ihr einer solchen Kleinigkeit nachgehen wollt oder nicht – Ihr müsst!“ Doch wie war die Polizei überhaupt an Chens Klageschrift gekommen? Chen ging erneut vor Gericht, dort behauptete man, gar nie eine Klageschrift erhalten zu haben, deshalb sei auch nie ein Fall eröffnet worden. Darauf war Chen vorbereitet, er hatte die Klageschrift per Einschreiben eingereicht und die Quittung aufbewahrt. Er bereitete nun eine Anklage gegen die Bezirksstaatsanwaltschaft selber vor, wegen Verletzung der Klägerrechte und Übergabe von Beweisen an den Angeklagten.
Wenn die Dorfbewohner von Chens Taten erzählen, dann kommen sie immer wieder auf eine Geschichte zurück: 1998, als er gerade die Uni abgeschlossen hatte und in sein Heimatdorf zurückgekehrt war bemerkte er einen üblen Geschmack im Wasser, und bald hörte er von Dorfbewohnern, die wie aus dem Nichts von undefinierbaren Krankheiten dahingerafft wurden. Einige Jugendliche, die es an die Uni geschafft hatten, wurden dort abgelehnt, weil sie die ärztliche Untersuchung nicht bestanden hatten. Chen war sicher: Das alles hing mit dem Wasser zusammen. Er begann, Beweise zu sammeln und brachte Funktionäre auf dem tiefsten Level der Partei von beiden Seiten des Flusses dazu, zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sammelten sie 40´000 Unterschriften für die Schließung der Papierfabrik und um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Nachdem die Fabrik geschlossen und die abgelagerten Gifte rückgebaut waren, reichte Chen eine Bewerbung beim britischen Commonwealth ein und erhielt Entwicklungshilfe in Höhe von 200´000 ¥ für den Bau eines 163 Meter tiefen Brunnens zugesprochen. Das waren Festtage im Dorf. Alle packten mit an, beim Bau des Brunnens oder bei der Renovierung der Kanalisation. Gemeinsam bauten sie den Brunnen zu einem Drittel des Preises, den die staatliche Baufirma verlangt hatte. Sie fühlten sich stark.
„Wer hätte gedacht, dass der Blinde, der von allen am wenigsten Wert schien, dafür sorgen würde, dass wir sauberes Wasser trinken können!“
Man muss wissen, wie schwierig es für Bauern und Dorfbewohnern ist, mit Behörden zu verhandeln. Geschichten wie die folgende passieren nämlich immer wieder: