Mittwoch, 16. Mai 2012

Han Han: Der Wind des Pazifik

Ein interessanter Blogpost von einem jungen, aber großen Schreiber: Han Han.


Als Flug 320 aus Shanghai auf der Landebahn am Taoyuan International Airport in Taiwan aufsetzte weckte mich die Vibration auf. Passenderweise spielte mein Smartphone gerade "Xixue" von Zhang Aijing, einen Song den man selten hört. Chen Sheng hat geschrieben: "1948 verliess ich den Menschen, der mir am meisten in der Welt bedeutete. Als der Zug anfuhr tanzten einsame Schneeflocken am Himmel des Nordens. Hätte ich gewusst, dass dies ein Abschied für 40 Jahre sein würde, ich wäre geblieben". Mein erster Eindruck von Taiwan ging lange nicht über den hinaus, den die Filme von Hou Xiaoxian und Yang Dechang bei mir hinterliessen. Nur Wei Desheng und Jin Badao haben ihn noch ein wenig zurechtgerückt. Die Schriftsteller die ich mag, Liang Shiqiu, Lin Yutang und Hu Shi sind alle nach Taiwan gegangen, und haben sich auch alle mit Lu Xun gestritten.

Als das chinesische Festland arm hatte Taiwan schon Geld, und als das Festland dann Geld hatte - oder besser gesagt, als die Regierung und ein paar wenige andere Geld hatten - da hatte Taiwan schon… [diesen Satz beendet er wohlweislich nicht]. Als sich der Pulverdampf verzog, fand sich das chinesische Volk geteilt, auf beiden Seiten einer Meerenge; die Wunden, die dies in viele Familien schlug sind mittlerweile vernarbt. Die Strassen Taipehs sind wirklich so wie sie Youkelilin in seinen Songs beschreibt, wie ein Labyrinth breiten sie sich vor mir aus. Doch für einen Fremden ist ja jede Stadt ein Labyrinth.

Ich komme im Hotel an, gleich daneben ein Filiale der Buchkette "Ehrliche Ware", 24 Stunden am Tag geöffnet, mit angeschlossenem Barbetrieb. Mein Freund brauchte eine neue Brille, deshalb abends erstmal eine machen lassen. Wir nahmen ein Taxi ins Universitätsviertel und betraten dort ein Optikergeschäft. Keine Verkäuferinnen die mit dummsüsser Stimme die Kunden einlullen sollen wie man sie auf dem Festland immer trifft, der Besitzer verkauft selber. Eine Brille gefiel meinem Freund besonders, doch es würde ein paar Tage dauern bis er die fertige Brille abholen könnte. "Vergessen wir's" meinte mein Freund, "ich bin nur drei Tage hier und brauche die Brille morgen, nicht erst in ein paar Tagen." Da passierte etwas erstaunliches: Der Geschäftsinhaber fummelte eine Schachtel Kontaktlinsen unter der Theke hervor, legte sie in die Hände meines Freundes mit den Worten: Bitte verzeihen Sie dass ich Ihnen nicht helfen konnte. Ich gebe Ihnen die hier mit, als Übergangslösung." Sogar ich, der immer versucht, das Beste von den Menschen anzunehmen, war erstmal sprachlos. Mein Gott, wo gibt es noch so gute Menschen? Da muss es doch einen Haken geben, können wir nun wirklich einfach so gehen?

Aber dann verliessen wir das Geschäft in aller Ruhe und fanden ein anderes Optikergeschäft gleich in der Nähe. Dort versprach man uns, dass die Brille bis zum nächsten Tag schon fertig sein würde, und danach suchte der Inhaber ein Gestell aus, in dass er die kaputten Gläser meines Freundes notdürftig einpassen konnte, damit er diesen Abend eine Brille habe. Das waren zwei völlig normale Optikergeschäfte, zufällig ausgewählt. Doch man könnte meinen, das sei alles sorgfältig arrangiert worden, damit wir Festlandchinesen einen besseren Eindruck von Taiwan kriegten.

Auf den Strassen Taiwans finden hier und da kleine Demonstrationen statt und es hängen Protestplakate an Hauswänden. Für die meisten Festlandtouristen ist das ungemein aufregend, weshalb die meisten Abends im Hotel bleiben und im Fernsehen Politdebatten kucken. Als meine Mutter letztes Jahr von einer Taiwanreise zurückkam fand sie das ungemein aufregend: Politiker beschimpfen sich ungehemmt im Fernsehen, das ist besser noch als "Happy Camp" (eine Game-Show mit Prominenten, die in China in ihre 15. Saison geht). Und die Taiwaner sehen darin schon gar nichts besonderes mehr. Doch was mich noch mehr beeindruckte als Herr Ma Yingjiu (letztes Jahr im Amt als Präsident Taiwans bestätigt) war Herr Wang Songpeng. Das ist kein berühmter Politiker, auch kein Künstler und kein Publizist. Er ist Taxifahrer. Einmal kam ich am morgen aus dem Hotel und nahm sein Taxi zum Yinming Berg. Dort angekommen merkte ich, dass ich mein Handy im Taxi verschusselt hatte. Das Kennzeichen des Taxis hatte ich mir natürlich nicht gemerkt. Meine Freunde suchten die Nummer des Taxi Unternehmens raus, vielleicht könnte man ja so was erreichen, Ich rief das Hotel an, vielleicht wäre auf den Bildern der Überwachungskamera ja das Autokennzeichen erkennbar. Nach ein paar Minuten kam der Rückruf, ich fragte: "Na, konnte man etwas erkennen?" - "Nein, das Video der Überwachungskamera ist viel zulang, viel zuviele verschiedene Taxen. Aber gerade kam ein Taxifahrer vorbei und hat ein Handy abgegeben, er meinte, das hätte ein Hotelgast in seinem Taxi zurückgelassen."

Ich war versteinert. Ich fragte nach der Telefonnummer des Fahrers und nach seinem Namen, ich möchte mich bei ihm bedanken. Herr Wang Songpeng meinte, das sei doch nicht nötig, das sei doch nichts besonderes, wir machen das alle so. Vor ein paart Tagen sei er mit ein paar Freunden rund um die Insel gefahren, und sie planten nun, eine Reise aufs Festland zu unternehmen. Das sei ja der Grund, warum er Taxi fahre, um an möglichst viele Orte zu kommen, viel zu sehen. Zum Schluss meinte er noch, "Ich habe QQ (eine Mischung aus Skype und ICQ, beliebt in China) und Weibo (der chinesische Twitter-Klon), was ist Ihre Nummer, damit wir online in Kontakt bleiben können? Da schien die Distanz zwischen den Chinesen auf beiden Seiten der Strasse von Taiwan plötzlich ganz klein. Dann meinte er noch: Haben Sie denn auch Facebook? Ich: "Auf dem Festland gibt es kein Face… bog". Er: "Oh, ach ja… Okay, sprechen wir ein andermal, ich hab Kundschaft!"

Vielleicht hatte ich ja einfach Glück, dass ich nur gute Leute treffe, vielleicht kenne ich sie nur oberflächlich, aber sie waren fast alle freundlich. Kein Zweifel, würde ich noch ein paar Tage in Taiwan bleiben, würde ich sicher auch unschöne Seiten der Insel und ihrer Menschen kennenlernen, vielleicht würde die primitive Seite durchbrechen, und die Ressentiments der einfachen Leute würden mit ihnen durchbrechen. Es gibt keinen perfekten Ort, kein perfektes System, keine perfekte Kultur, und innerhalb des chinesischen Kulturkreises mag Taiwan kein Ideal sein - aber es gibt nichts besseres.

In diesem Blogeintrag will ich keine Politik- und Systemdiskussion führen. Für einen Schriftsteller aus dem Festland fühle ich mich einfach verdammt verloren. Dieses Gefühl von Verlorensein kommt aber nicht wegen ein paar Tagen Sightseeing sondern ist ein Gefühl, das immer schon in mir war. Ich bin verloren in der Umgebung, in der ich lebe, die ersten Jahrzehnte war blutiger Kampf die Parole, danach wurden wir zu Gier und Egoismus aufgerufen, deshalb tragen viele von uns diesen Samen der Leere in uns: Ich bin verloren auf dem Schlachtfeld, auf dem die vorherige Generation die Kultur und damit auch jene traditionellen Tugenden zerstört hat, das Vertrauen zwischen den Menschen, Glauben und Konsens und trotz all der Beteuerungen keine neue, bessere Welt anstatt der alten aufgebaut hat. Als Nachhut ist man ratlos: Kann man das noch reparieren, neu aufbauen - oder doch besser vollends zerstören; Ich bin verloren ob der Frage, ob die Generation nach uns in einer Umgebung gegenseitigen Verständnisses oder des sich gegenseitig verletzens aufwachsen wird. Ich bin verloren, da ich als Schriftsteller beim Schreiben dieses Blogeintrags ständig die Wörter hin- und herwende, die einen verwerfe und andere benutze, damit ich nie diese unsichtbare Linie überschreite; Ich bin verloren, denn jedesmal wenn jemand etwas Guten tut ist mein erster Gedanke: "Könnte da nicht eine finstere Absicht dahinter stecken?". Ich fühle mich verloren, da die Werke von uns Festlandschriftstellern kaum je in Taiwan gelesen werden, und wenn etwas übers Festland in Taiwan Resonanz hat, dann diese Geschichtsbücher und Gesellschaftskritik, und das schlimmste ist noch, dass wir Festlandchinesen uns auf diese Publikationen, die es bei uns nicht gibt, stürzen müssen, um mehr über uns selber zu lernen. Abgesehen vom Profit und vom unablässigen Kampf gegen unsere Mitmenschen lässt uns alles nur noch kalt. Ereignisse und Nachrichten aus unserem Land, die dieser Kälte und Absurdität entspringen machen Schlagzeilen in Zeitungen überall auf der Welt. Obwohl diese Ereignisse eigentlich Fehler unserer Führung darstellen, so sind sie Leier doch zu Fussnoten unserer Kultur geworden.

Ja, ich möchte Hongkong und Taiwan danken. Nur weil sie der chinesischen Kultur Schutz geboten haben konnte sie ihre schönen Traditionen tradieren, wie der Lebensfunke eines Baumes, der in den Wurzeln schlummernd eine Feuersbrunst überleben kann, um dann neu auszutreiben. Nicht dass Hongkong und Taiwan über jeden Zweifel erhaben wären. Wir aber, obwohl es bei uns nun Ritz Carlton und Peninsulas gibt, Gucci und Louis Vuitton, aber die Frauen unserer Bezirksbeamten sind reicher als die Minister in Hongkong und Taiwan, obwohl wir Blockbuster drehen, die bei ihnen für 20, 30 Filme reichen würden, die Olympischen Spiele und Weltausstellungen, mit denen wir protzen werden sie sich nie leisten können. Doch auf all dies kann ich nicht stolz sein wenn ich Taiwans Taxifahrer, Nudelshop-Besitzer und Passanten sehe. Was immer wir haben, sie haben es auch. Die Statussymbole auf die wir so gerne verweisen wollen sich die Steuerzahler Taiwans und Hongkongs nicht leisten, dafür haben sie sich das bewahrt, was wir verloren haben. Und genau die Dinge, die Menschen am meisten Würde und Stolz geben können, die fehlen uns. 

Kultur, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit sind alles, was ein Volk ausmacht. Keine Land verdient sich den Respekt der anderen, indem es wie verrückt Supersportwagen und Schnellboote aufkauft. Wieder im Flugzeug, auf 20'000 Fuss Höhe, nur eine halbe Stunde vor Shanghai geht mein Blick zum Fenster hinaus und sieht nichts als Wasser. Wenn wir doch schon den Wind des Pazifik teilen, dann soll er doch auch alles andere zu uns herübersehen!

Das Original findet man hier: 

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