Montag, 7. Mai 2012

Die Geschichte des Blinden, selbstgelernten Anwalts. I


Wer hat in den letzten Tagen nicht mit dem Schicksal des blinden, selbstausgebildeten Anwalt Chen Guangcheng mitgefiebert?
Interessante Artikel zum Beispiel:
und im Tagi:
Vor ein paar Monaten schon hatte ich in einem Chinesischen Blog (hier)einen langen Post über seine Geschichte gelesen, die mich tief beeindruckt hat. In den vielen Artikeln in der westlichen Presse der letzten Tage waren die Hintergründe zu kurz gekommen - deshalb hier  haben mir die Übersetzung des chinesischen Blogs.
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Mein erster und tiefster Eindruck von Chen waren seine Hände. Unter Straßenschild Nummer 129 an der Hauptstraße von Peking nach Linyi. Um drei Uhr früh stieg ich aus, und ein paar warmer Hände hielten mich fest. Wenige später hielten mich diese Hände wieder und zeigten mir sein Dorf. Für einen Blinden sind seine Hände die einzige Möglichkeit, in direkten Kontakt mit einem anderen Menschen zu treten. Mit seinen Händen drückt er drückt er seine Gefühle aus: Wenn er seine fünf Finger mit deinen verschränkt, zeigt er einem, dass er vertraut, wenn er mit mehr Kraft zudrückt, dann unterdrückt er eine innere Wut, ein leichtes tätscheln bedeutet Zustimmung, und wenn seine Finger die Umrisse deines Gesichtes ertasten, dann sagt er: „Was für ein Mensch bist du?“. Und seine Hände sind immer warm...
Der Blinde Junge, der Vogelnester ausraubt
Chen ist geboren und aufgewachsen im Dorf Dongshigu in der Provinz Shandong. Als er ein Jahr alt war befiel ihn ein hohes Fieber. Mutter musste die Familie versorgen und konnte sich nicht, sie buk Brot für die Großfamilie und konnte sich nicht vom Herd losreißen. Sein Vater rang hilflos seine Hände und könnte nichts anderes tun, als seinem Kind beim Weinen zuhören – eine ganze Nacht lang. Für Chen gab es kein Sonnenlicht mehr nach dieser Nacht, nie mehr. In diesem Abgelegenen Dorf in den Vorbergen, auf beiden Augen blind – und doch war er einer der schlimmsten Lausbube des Dorfes – und ein talentierter Eierdieb! Er sagte den andern Kindern, sie sollten vom Boden aus mit Bambusstücken gegen das Vogelnest schlagen, und er kletterte auf den Baum, und folgte dem Zwitschern der verängstigten Küken zum Nest – er fand die Eier jedes mal. Schon lange erwachsen, fragen ihn seine Freunde aus jenen Tagen manchmal: „Na, Chen, wann gehen wir wieder Fische fangen?“ Kein anderes Kind im Dorf konnte so gut Fische mit den Händen fangen wie er: „Ich sehe die Fische nicht, aber ich weiss, wo die Fische sein könnten, unter welchen Steinen es Fische hat.“
Seine Kindheit war glücklich, er half seinen Eltern bei der Weizenernte, fühlte die Veränderung der Ähren mit seinen Händen. Unglücklich machte es ihn, wenn einige Kinder ihn foppten, seine Blindheit ausnutzten, zum Beispiel indem sie ihm eine Kopfnuss verpassten und dann davonrannten. Seine Strategie war, in diesem Moment nicht zu reagieren, aber sich Stimme und Dialekt des Jungen zu merken – und wenn ihm dieser arme Trottel das nächste Mal nah genug kam, dann packte er ihn und verpasste ihm eine Tracht Prügel, die er nicht so schnell wieder vergessen würde. Wenn ihn die anderen Kinder schlugen und dann ins Lehre laufen liessen, dann standen die Erwachsenen nur daneben und sagten: Ach, lasst doch mal den blinden Jungen in Ruhe – taten aber nichts. Wenn er aber mal einen in die Finger bekam und ihm gab, was er verdiente, dann eilten sie herbei und trennten die Streithähne. Offensichtlich fanden sie es unbewusst ganz normal, dass blinde Kinder grundlos gequält werden. „Die Welt ist ungerecht“, realisierte Chen.
Einem Blinden bieten sich im Leben nur wenige Möglichkeiten. Erst als Chen 18 Jahre alt war, besuchte er die erste Klasse der Primarschule. Nur mit Glück entkam Chen dem Schicksal, als Analphabet durchs Leben zu gehen, ein Glück, das die wenigsten Blinden haben. Sein Vater kannte die wichtigsten Schriftzeichen, und las ihm abends die alten Klassiker vor, über den Aufstand der Geächteten, und über die Intrigen während der Zeit der streitenden Reiche. Der ständige Kampf gegen das Unrecht in der Welt, das war ein Ideal, der sich ihm tief einprägte. In der Sekundarschule für Blinde sperrte der Rektor die Kinder in den Klassenzimmern ein, unter dem Vorwand, sie vor dem Straßenverkehr schützen zu wollen, durften sie die Schule auch in Pausen nicht verlassen. Die Schüler protestierten: „Uns einzusperren schützt uns eine Zeit lang – aber nimmt uns Chancen fürs Leben.“ Der Protest, organisiert von Chen, war erfolgreich.
Zu der Zeit gab es in ganz China nur zwei Universitäten, die  pro Jahr zusammen 40 bis 50 blinde Studenten aufnahmen. In den Augen der meisten Menschen waren Blinde außer als Masseure und als Wahrsager vor den Bushaltestellen zu nichts nütze.
Aber Chen ging seinen eigenen Weg, zurück in sein verarmtes Dorf. Er war ein interessierter Mensch, liebte es, zuhause über Politik und über das Weltgeschehen zu diskutieren. Immer mehr Leute kamen zu ihm, um Streitigkeiten schlichten zu lassen, wenn jemand ein Blumentopf auf den Kopf gefallen war, vom Hund gebissen wurde, oder wenn alte Leute sich von ihren Kindern nicht gut genug versorgt fühlten. Chen ging diese Fälle immer aus seinem persönlichen Gerechtigkeitssinn heraus an, doch als er einmal von einem Richterspruch in einem ähnlichen Fall hörte, da wurde ihm klar, dass das Recht mit seinem Empfinden vieles gemeinsam hatte. Er war fasziniert, liess sich von seinem Vater Gesetzestexte vorlesen und hörte Justizsendungen im Radio.
1991 trat in China ein Gesetz zum Schutz der Menschenrechte Behinderter in Kraft, von da an waren Blinde von der Bürde landwirtschaftlicher Abgaben und von Fronarbeit befreit. Doch das Gesetz war ein Papiertiger, in den Dörfern änderte sich gar nichts.
Die Schläger, von den Dorfvorstehern mit dem Eintreiben der Steuern beauftragt, scherten sich um keine Gesetze, das Recht des Stärkeren zählte. Sie steckten Zahlungsunwillige in Jutesäcke und knüppelten dann auf sie ein, bis sie sich nicht mehr bewegten, sie stemmten Türen auf um Häuser nach Wertsachen zu durchsuchen. Und Behinderte waren die leichtesten Opfer. Im Nachbardorf erlitt ein Taubstummer eine schwere Gehirnerschütterung. 1993 wollten sie bei Chen Steuern eintreiben, und er begann sich zu wehren. Er petitionierte vor der Dorfregierung, der Bezirksregierung, auf der Ebene der Stadt, Provinz – und schließlich beim Staatsrat in Peking, der höchsten Stelle des Landes, die ein Bürger anrufen kann. Drei Monate später standen Dorfbeamte vor seiner Tür, bezahlten ihm die bereits eingezogenen Abgaben zurück. Von nun an würde er sogar die ¥200 (ca. € 25) erhalten, die ihm zustanden. Die Freude währte nur kurz – bald darauf stellte er fest, dass die Dorfregierung einen großen Teil des Felds, das er gepachtet hatte, noch einmal weiterverpachtet hatte. Ohne sein Wissen, und die ¥ 240 an Pacht erhielt nicht er, sondern die Dorfregierung. Petitionieren ist zwecklos, musste Chen erkennen.
Lin, ein Blinder aus dem Nachbardorf suchte seine Hilfe. Weiterhin wurden von ihm Steuern und Abgaben eingezogen, man hatte ihn auch zu Fronarbeit auf dem Bau gezwungen. Als er sich weigerte, die Abgaben zu bezahlen, beschimpfte ihn der Dorfvorsteher über den öffentlichen Lausprecher, und die Partei entschied: „Blinder, alle bezahlen, und am Ende wirst auch du bezahlen!“.
Chen setzte für Lin die Klageschrift auf. Das Gericht entschied für Lin und gegen den Dorfvorstand. Dies war Chens erster Fall als Anwalt.
Viele merkwürdige Dinge passierten im Dorf. Um legal ein Kind zu haben, brauchte mein eine Geburtsbewilligung vom Familienplanungsausschuss. Dieser war verantwortlich für die Umsetzung der Ein-Kind-Politik und mit großer Macht ausgestattet worden. Eine solche Bewilligung aber wurde nur ausgestellt, wenn man eine Flasche „Wundermedizin“, von der keiner wusste, wozu sie gut war und wie man sie benutzte für 350 ¥ zu kaufen. Die meisten aber konnten sich diese Wundermedizin – und das Recht, Kinder zu haben – nicht leisten! Eine dieser Frauen, verheiratet und zum ersten Mal schwanger, also mit jedem Recht zu gebären, wurde vom Familienplanungsausschuss im 6.Schwangerschaftsmonat aufgegriffen. Ihr Kind sollte zwangsabgetrieben werden, um ein Exempel zu statuieren. Als Chen davon hörte, eilte er zum Ort des Geschehens, wutentbrannt schrie er: „Was ihr vorhabt ist ein Verbrechen, ein 6-monatiges Baby abzutreiben ist Mord, wisst ihr das eigentlich?!“ Erschrocken ließen die Leute vom Familienplanungsausschuss von ihrem Vorhaben hab.
Immer mehr Leute sahen in Chen einen Beschützer, sie dichteten ihm etwas übernatürliches, fast heiliges an. Er wehrte ab, er sei kein Schutzheiliger: „Diese Rechte habe nicht ich euch gegeben, diese Rechte hattet ihr immer schon!“
In der Nachbarsfamilie gab es einen Geisteskranken, die Nachbarsfamilie wusste sich nicht anders zu helfen, als ihn in einem nur wenige Quadratmeter grossen Schuppen einzusperren, und ihm jeden Tag etwas zu essen zu bringen. Selbst für diesen Mann aber hatte die Regierung während 10 Jahren Abgaben eingezogen. Chen warnte: „Wenn ihr weiterhin versucht, dieses Geld einzuziehen, dann wird der Richter davon erfahren!“ Solche Dinge passierten immer wieder, und Fall für Fall wurde Chen zum „Barfußanwalt“. Im ländlichen China bezeichnet man mit „Barfuß“ einen Menschen, der einer Tätigkeit nachgeht, für die er keine offizielle Ausbildung hat. Berühmt waren die „Barfußärzte“ der Mao-Zeit, die nach einer Grundausbildung in den Kreisstädten zum ersten Mal medizinische Grundversorgung in die Dörfer brachten.
Heute sagt Chen: „Solche Fälle lehnten die richtigen Anwälte in den Städten ab, sie konnten sie nicht annehmen, und die Bauern hätten sie auch gar nicht bezahlen können.“ 2001 schliesslich gab Chen seine Arbeit im Bezirkskrankenhaus auf, um sich nun vollständig der Vertretung seiner Mitbürger vor Gericht zu widmen. „Ehrlich gesagt: Die Leute, die ins Krankenhaus kommen, um sich massieren zu lassen sind sowieso alles irgendwelche Regierungsbeamte, die vom vielen Mah-Jongg spielen krank geworden sind.“ Wer nicht sieht, muss das zehn- und mehrfache in die Arbeit investieren. Wenn ein Sehender ein Protokoll liest, so muss ein Blinder sich die Aufnahme davon anhören. Was ein sehender mal eben mit dem Fahrrad abholt, dafür war Chen stundenlang zu Fuß unterwegs, auf Bergstraßen und über Schutthalden, und meist allein. Häufig verirrte er sich und fand erst mitten in der Nacht nach Hause. Einmal überquerte er eine Brücke und fiel ins Flussbett hinunter – hätte der Fluss nicht ein wenig Wasser geführt, es wäre sein Tod gewesen.
Die Gefahren der Natur waren real, aber sie verblassten vor den Gefahren die von den Menschen, denen er mit seiner Arbeit schadete ausging. Häufig gab es nächtliche Drohanrufe. Eines Nachts ging er auf einer menschenleere Landstraße, da hörte er hinter sich die Geräusche eines Motorrads, das ihm langsam folgte. Plötzlich beschleunigte es, raste direkt auf ihn zu – um im letzten Moment abzubremsen. Totenstille und Dunkelheit. Dann fuhr das Motorrad davon. „Wahrscheinlich ein angeheuerter Schläger, der im letzten Moment sein Gewissen spürte.“
Von 1992 bis heute bis heute waren Sitzungen, Einnahmen und Ausgaben von Dongshigu ein Geheimnis gewesen. Unter Chens Anleitung wählten zwei Drittel der Dorfbewohner nun sechs Vertreter, um die Dorfregierung aufzufordern, zurückzutreten, um eine neue Regierung zu bilden. Chen klebte 300 offene Briefe mit den Forderungen der Bewohner an die Regierung an die Wände des Dorfes und schickte Kopien davon an den Volkskongress und die oberste Staatsanwaltschaft in Peking. Darauf, am 4. März 2004 hingen 20 Plakate mit Bekanntmachungen in großen Lettern an den Wänden des Dorfes. „Blinder, wenn du das nächste Mal den Rücktritt der Regierung auch nur erwähnst, werden wir deinen Schädel einschlagen!“
Chen rief sofort den Polizeinotruf und schickte eines der Plakate als Beweis zum Polizeiposten. Es kam keine Antwort, niemand ging ans Telefon. Immer wieder rief er bei der Polizei an, über 10-mal, schließlich herrschte ihn jemand an: „Ruf noch einmal an, dann kommen wir vorbei und machen dich fertig!“. Der Dorfvorstand freute sich: „Nun sieht man, wer bei der Polizei das Sagen hat, wir oder Ihr!“ Dann wurden in einem Wäldchen, welches einem der sechs gewählten Repräsentanten gehörte, alle Bäume gefällt. Chen erhob Anklage gegen die Bezirkspolizei. Nach über einer Woche kamen dieselben Bezirkspolizisten ins Dorf – mit der Klageschrift, die er zur Staatsanwaltschaft geschickt hatte! „Wegen einer solchen Kleinigkeit wollt ihr Anklage erheben?“ Gefasst erwiderte Chen: „Für euch mag das eine Kleinigkeit sein, für uns bedeutet es viel! Ihr aber werdet vom Staat bezahlt, und ob ihr einer solchen Kleinigkeit nachgehen wollt oder nicht – Ihr müsst!“ Doch wie war die Polizei überhaupt an Chens Klageschrift gekommen? Chen ging erneut vor Gericht, dort behauptete man, gar nie eine Klageschrift erhalten zu haben, deshalb sei auch nie ein Fall eröffnet worden. Darauf war Chen vorbereitet, er hatte die Klageschrift per Einschreiben eingereicht und die Quittung aufbewahrt. Er bereitete nun eine Anklage gegen die Bezirksstaatsanwaltschaft selber vor, wegen Verletzung der Klägerrechte und Übergabe von Beweisen an den Angeklagten.
Wenn die Dorfbewohner von Chens Taten erzählen, dann kommen sie immer wieder auf eine Geschichte zurück: 1998, als er gerade die Uni abgeschlossen hatte und in sein Heimatdorf zurückgekehrt war bemerkte er einen üblen Geschmack im Wasser, und bald hörte er von Dorfbewohnern, die wie aus dem Nichts von undefinierbaren Krankheiten dahingerafft wurden. Einige Jugendliche, die es an die Uni geschafft hatten, wurden dort abgelehnt, weil sie die ärztliche Untersuchung nicht bestanden hatten. Chen war sicher: Das alles hing mit dem Wasser zusammen. Er begann, Beweise zu sammeln und brachte Funktionäre auf dem tiefsten Level der Partei von beiden Seiten des Flusses dazu, zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sammelten sie 40´000 Unterschriften für die Schließung der Papierfabrik und um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Nachdem die Fabrik geschlossen und die abgelagerten Gifte rückgebaut waren, reichte Chen eine Bewerbung beim britischen Commonwealth ein und erhielt Entwicklungshilfe in Höhe von 200´000 ¥ für den Bau eines 163 Meter tiefen Brunnens zugesprochen. Das waren Festtage im Dorf. Alle packten mit an, beim Bau des Brunnens oder bei der Renovierung der Kanalisation. Gemeinsam bauten sie den Brunnen zu einem Drittel des Preises, den die staatliche Baufirma verlangt hatte. Sie fühlten sich stark.
„Wer hätte gedacht, dass der Blinde, der von allen am wenigsten Wert schien, dafür sorgen würde, dass wir sauberes Wasser trinken können!“
Man muss wissen, wie schwierig es für Bauern und Dorfbewohnern ist, mit Behörden zu verhandeln. Geschichten wie die folgende passieren nämlich immer wieder:

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