Wer hat in den letzten Tagen nicht mit dem Schicksal des blinden, selbstausgebildeten Anwalt Chen Guangcheng mitgefiebert?
Interessante Artikel zum Beispiel:
und im Tagi:
Vor ein paar Monaten schon hatte ich in einem Chinesischen Blog (hier)einen langen Post über seine Geschichte gelesen, die mich tief beeindruckt hat. In den vielen Artikeln in der westlichen Presse der letzten Tage waren die Hintergründe zu kurz gekommen - deshalb hier haben mir die Übersetzung des chinesischen Blogs.
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Mein erster und tiefster Eindruck von Chen waren seine
Hände. Unter Straßenschild Nummer 129 an der Hauptstraße von Peking nach Linyi.
Um drei Uhr früh stieg ich aus, und ein paar warmer Hände hielten mich
fest. Wenige später hielten mich diese Hände wieder und zeigten mir sein Dorf.
Für einen Blinden sind seine Hände die einzige Möglichkeit, in direkten Kontakt
mit einem anderen Menschen zu treten. Mit seinen Händen drückt er drückt er seine
Gefühle aus: Wenn er seine fünf Finger mit deinen verschränkt, zeigt er einem,
dass er vertraut, wenn er mit mehr Kraft zudrückt, dann unterdrückt er eine
innere Wut, ein leichtes tätscheln bedeutet Zustimmung, und wenn seine Finger
die Umrisse deines Gesichtes ertasten, dann sagt er: „Was für ein Mensch bist
du?“. Und seine Hände sind immer warm...
Der Blinde Junge, der
Vogelnester ausraubt
Chen ist
geboren und aufgewachsen im Dorf Dongshigu in der Provinz Shandong. Als er ein
Jahr alt war befiel ihn ein hohes Fieber. Mutter musste die Familie versorgen
und konnte sich nicht, sie buk Brot für die Großfamilie und konnte sich nicht
vom Herd losreißen. Sein Vater rang hilflos seine Hände und könnte nichts
anderes tun, als seinem Kind beim Weinen zuhören – eine ganze Nacht lang. Für
Chen gab es kein Sonnenlicht mehr nach dieser Nacht, nie mehr. In diesem
Abgelegenen Dorf in den Vorbergen, auf beiden Augen blind – und doch war er
einer der schlimmsten Lausbube des Dorfes – und ein talentierter Eierdieb! Er
sagte den andern Kindern, sie sollten vom Boden aus mit Bambusstücken gegen das
Vogelnest schlagen, und er kletterte auf den Baum, und folgte dem Zwitschern
der verängstigten Küken zum Nest – er fand die Eier jedes mal. Schon lange
erwachsen, fragen ihn seine Freunde aus jenen Tagen manchmal: „Na, Chen, wann
gehen wir wieder Fische fangen?“ Kein anderes Kind im Dorf konnte so gut Fische
mit den Händen fangen wie er: „Ich sehe die Fische nicht, aber ich weiss, wo
die Fische sein könnten, unter welchen Steinen es Fische hat.“
Seine
Kindheit war glücklich, er half seinen Eltern bei der Weizenernte, fühlte die
Veränderung der Ähren mit seinen Händen. Unglücklich machte es ihn, wenn einige
Kinder ihn foppten, seine Blindheit ausnutzten, zum Beispiel indem sie ihm eine
Kopfnuss verpassten und dann davonrannten. Seine Strategie war, in diesem
Moment nicht zu reagieren, aber sich Stimme und Dialekt des Jungen zu merken –
und wenn ihm dieser arme Trottel das nächste Mal nah genug kam, dann packte er
ihn und verpasste ihm eine Tracht Prügel, die er nicht so schnell wieder vergessen
würde. Wenn ihn die anderen Kinder schlugen und dann ins Lehre laufen liessen,
dann standen die Erwachsenen nur daneben und sagten: Ach, lasst doch mal den
blinden Jungen in Ruhe – taten aber nichts. Wenn er aber mal einen in die
Finger bekam und ihm gab, was er verdiente, dann eilten sie herbei und trennten
die Streithähne. Offensichtlich fanden sie es unbewusst ganz normal, dass
blinde Kinder grundlos gequält werden. „Die Welt ist ungerecht“, realisierte
Chen.
Einem
Blinden bieten sich im Leben nur wenige Möglichkeiten. Erst als Chen 18 Jahre
alt war, besuchte er die erste Klasse der Primarschule. Nur mit Glück entkam
Chen dem Schicksal, als Analphabet durchs Leben zu gehen, ein Glück, das die
wenigsten Blinden haben. Sein Vater kannte die wichtigsten Schriftzeichen, und
las ihm abends die alten Klassiker vor, über den Aufstand der Geächteten, und
über die Intrigen während der Zeit der streitenden Reiche. Der ständige Kampf
gegen das Unrecht in der Welt, das war ein Ideal, der sich ihm tief einprägte.
In der Sekundarschule für Blinde sperrte der Rektor die Kinder in den
Klassenzimmern ein, unter dem Vorwand, sie vor dem Straßenverkehr schützen zu
wollen, durften sie die Schule auch in Pausen nicht verlassen. Die Schüler
protestierten: „Uns einzusperren schützt uns eine Zeit lang – aber nimmt uns
Chancen fürs Leben.“ Der Protest, organisiert von Chen, war erfolgreich.
Zu der Zeit
gab es in ganz China nur zwei Universitäten, die pro Jahr zusammen 40 bis 50 blinde Studenten
aufnahmen. In den Augen der meisten Menschen waren Blinde außer als Masseure
und als Wahrsager vor den Bushaltestellen zu nichts nütze.
Aber Chen
ging seinen eigenen Weg, zurück in sein verarmtes Dorf. Er war ein
interessierter Mensch, liebte es, zuhause über Politik und über das
Weltgeschehen zu diskutieren. Immer mehr Leute kamen zu ihm, um Streitigkeiten
schlichten zu lassen, wenn jemand ein Blumentopf auf den Kopf gefallen war, vom
Hund gebissen wurde, oder wenn alte Leute sich von ihren Kindern nicht gut
genug versorgt fühlten. Chen ging diese Fälle immer aus seinem persönlichen
Gerechtigkeitssinn heraus an, doch als er einmal von einem Richterspruch in
einem ähnlichen Fall hörte, da wurde ihm klar, dass das Recht mit seinem
Empfinden vieles gemeinsam hatte. Er war fasziniert, liess sich von seinem
Vater Gesetzestexte vorlesen und hörte Justizsendungen im Radio.
1991 trat in
China ein Gesetz zum Schutz der Menschenrechte Behinderter in Kraft, von da an
waren Blinde von der Bürde landwirtschaftlicher Abgaben und von Fronarbeit
befreit. Doch das Gesetz war ein Papiertiger, in den Dörfern änderte sich gar
nichts.
Die
Schläger, von den Dorfvorstehern mit dem Eintreiben der Steuern beauftragt,
scherten sich um keine Gesetze, das Recht des Stärkeren zählte. Sie steckten
Zahlungsunwillige in Jutesäcke und knüppelten dann auf sie ein, bis sie sich
nicht mehr bewegten, sie stemmten Türen auf um Häuser nach Wertsachen zu
durchsuchen. Und Behinderte waren die leichtesten Opfer. Im Nachbardorf erlitt
ein Taubstummer eine schwere Gehirnerschütterung. 1993 wollten sie bei Chen
Steuern eintreiben, und er begann sich zu wehren. Er petitionierte vor der
Dorfregierung, der Bezirksregierung, auf der Ebene der Stadt, Provinz – und
schließlich beim Staatsrat in Peking, der höchsten Stelle des Landes, die ein
Bürger anrufen kann. Drei Monate später standen Dorfbeamte vor seiner Tür,
bezahlten ihm die bereits eingezogenen Abgaben zurück. Von nun an würde er
sogar die ¥200 (ca. € 25) erhalten, die ihm zustanden. Die Freude währte nur
kurz – bald darauf stellte er fest, dass die Dorfregierung einen großen Teil
des Felds, das er gepachtet hatte, noch einmal weiterverpachtet hatte. Ohne
sein Wissen, und die ¥ 240 an Pacht erhielt nicht er, sondern die
Dorfregierung. Petitionieren ist zwecklos, musste Chen erkennen.
Lin, ein
Blinder aus dem Nachbardorf suchte seine Hilfe. Weiterhin wurden von ihm
Steuern und Abgaben eingezogen, man hatte ihn auch zu Fronarbeit auf dem Bau
gezwungen. Als er sich weigerte, die Abgaben zu bezahlen, beschimpfte ihn der
Dorfvorsteher über den öffentlichen Lausprecher, und die Partei entschied:
„Blinder, alle bezahlen, und am Ende wirst auch du bezahlen!“.
Chen setzte
für Lin die Klageschrift auf. Das Gericht entschied für Lin und gegen den
Dorfvorstand. Dies war Chens erster Fall als Anwalt.
Viele
merkwürdige Dinge passierten im Dorf. Um legal ein Kind zu haben, brauchte mein
eine Geburtsbewilligung vom Familienplanungsausschuss. Dieser war
verantwortlich für die Umsetzung der Ein-Kind-Politik und mit großer Macht
ausgestattet worden. Eine solche Bewilligung aber wurde nur ausgestellt, wenn
man eine Flasche „Wundermedizin“, von der keiner wusste, wozu sie gut war und
wie man sie benutzte für 350 ¥ zu kaufen. Die meisten aber konnten sich diese
Wundermedizin – und das Recht, Kinder zu haben – nicht leisten! Eine dieser
Frauen, verheiratet und zum ersten Mal schwanger, also mit jedem Recht zu
gebären, wurde vom Familienplanungsausschuss im 6.Schwangerschaftsmonat
aufgegriffen. Ihr Kind sollte zwangsabgetrieben werden, um ein Exempel zu
statuieren. Als Chen davon hörte, eilte er zum Ort des Geschehens, wutentbrannt
schrie er: „Was ihr vorhabt ist ein Verbrechen, ein 6-monatiges Baby
abzutreiben ist Mord, wisst ihr das eigentlich?!“ Erschrocken ließen die Leute
vom Familienplanungsausschuss von ihrem Vorhaben hab.
Immer mehr
Leute sahen in Chen einen Beschützer, sie dichteten ihm etwas übernatürliches,
fast heiliges an. Er wehrte ab, er sei kein Schutzheiliger: „Diese Rechte habe
nicht ich euch gegeben, diese Rechte hattet ihr immer schon!“
In der
Nachbarsfamilie gab es einen Geisteskranken, die Nachbarsfamilie wusste sich
nicht anders zu helfen, als ihn in einem nur wenige Quadratmeter grossen
Schuppen einzusperren, und ihm jeden Tag etwas zu essen zu bringen. Selbst für
diesen Mann aber hatte die Regierung während 10 Jahren Abgaben eingezogen. Chen
warnte: „Wenn ihr weiterhin versucht, dieses Geld einzuziehen, dann wird der
Richter davon erfahren!“ Solche Dinge passierten immer wieder, und Fall für
Fall wurde Chen zum „Barfußanwalt“. Im ländlichen China bezeichnet man mit „Barfuß“
einen Menschen, der einer Tätigkeit nachgeht, für die er keine offizielle
Ausbildung hat. Berühmt waren die „Barfußärzte“ der Mao-Zeit, die nach einer
Grundausbildung in den Kreisstädten zum ersten Mal medizinische Grundversorgung
in die Dörfer brachten.
Heute sagt
Chen: „Solche Fälle lehnten die richtigen Anwälte in den Städten ab, sie
konnten sie nicht annehmen, und die Bauern hätten sie auch gar nicht bezahlen
können.“ 2001 schliesslich gab Chen seine Arbeit im Bezirkskrankenhaus auf, um
sich nun vollständig der Vertretung seiner Mitbürger vor Gericht zu widmen.
„Ehrlich gesagt: Die Leute, die ins Krankenhaus kommen, um sich massieren zu
lassen sind sowieso alles irgendwelche Regierungsbeamte, die vom vielen Mah-Jongg
spielen krank geworden sind.“ Wer nicht sieht, muss das zehn- und mehrfache in
die Arbeit investieren. Wenn ein Sehender ein Protokoll liest, so muss ein
Blinder sich die Aufnahme davon anhören. Was ein sehender mal eben mit dem
Fahrrad abholt, dafür war Chen stundenlang zu Fuß unterwegs, auf Bergstraßen
und über Schutthalden, und meist allein. Häufig verirrte er sich und fand erst
mitten in der Nacht nach Hause. Einmal überquerte er eine Brücke und fiel ins
Flussbett hinunter – hätte der Fluss nicht ein wenig Wasser geführt, es wäre
sein Tod gewesen.
Die Gefahren
der Natur waren real, aber sie verblassten vor den Gefahren die von den
Menschen, denen er mit seiner Arbeit schadete ausging. Häufig gab es nächtliche
Drohanrufe. Eines Nachts ging er auf einer menschenleere Landstraße, da hörte
er hinter sich die Geräusche eines Motorrads, das ihm langsam folgte. Plötzlich
beschleunigte es, raste direkt auf ihn zu – um im letzten Moment abzubremsen.
Totenstille und Dunkelheit. Dann fuhr das Motorrad davon. „Wahrscheinlich ein
angeheuerter Schläger, der im letzten Moment sein Gewissen spürte.“
Von 1992 bis
heute bis heute waren Sitzungen, Einnahmen und Ausgaben von Dongshigu ein
Geheimnis gewesen. Unter Chens Anleitung wählten zwei Drittel der Dorfbewohner
nun sechs Vertreter, um die Dorfregierung aufzufordern, zurückzutreten, um eine
neue Regierung zu bilden. Chen klebte 300 offene Briefe mit den Forderungen der
Bewohner an die Regierung an die Wände des Dorfes und schickte Kopien davon an
den Volkskongress und die oberste Staatsanwaltschaft in Peking. Darauf, am 4.
März 2004 hingen 20 Plakate mit Bekanntmachungen in großen Lettern an den
Wänden des Dorfes. „Blinder, wenn du das nächste Mal den Rücktritt der
Regierung auch nur erwähnst, werden wir deinen Schädel einschlagen!“
Chen rief
sofort den Polizeinotruf und schickte eines der Plakate als Beweis zum
Polizeiposten. Es kam keine Antwort, niemand ging ans Telefon. Immer wieder
rief er bei der Polizei an, über 10-mal, schließlich herrschte ihn jemand an:
„Ruf noch einmal an, dann kommen wir vorbei und machen dich fertig!“. Der
Dorfvorstand freute sich: „Nun sieht man, wer bei der Polizei das Sagen hat,
wir oder Ihr!“ Dann wurden in einem Wäldchen, welches einem der sechs gewählten
Repräsentanten gehörte, alle Bäume gefällt. Chen erhob Anklage gegen die
Bezirkspolizei. Nach über einer Woche kamen dieselben Bezirkspolizisten ins
Dorf – mit der Klageschrift, die er zur Staatsanwaltschaft geschickt hatte!
„Wegen einer solchen Kleinigkeit wollt ihr Anklage erheben?“ Gefasst erwiderte
Chen: „Für euch mag das eine Kleinigkeit sein, für uns bedeutet es viel! Ihr
aber werdet vom Staat bezahlt, und ob ihr einer solchen Kleinigkeit nachgehen
wollt oder nicht – Ihr müsst!“ Doch wie war die Polizei überhaupt an Chens
Klageschrift gekommen? Chen ging erneut vor Gericht, dort behauptete man, gar
nie eine Klageschrift erhalten zu haben, deshalb sei auch nie ein Fall eröffnet
worden. Darauf war Chen vorbereitet, er hatte die Klageschrift per Einschreiben
eingereicht und die Quittung aufbewahrt. Er bereitete nun eine Anklage gegen
die Bezirksstaatsanwaltschaft selber vor, wegen Verletzung der Klägerrechte und
Übergabe von Beweisen an den Angeklagten.
Wenn die
Dorfbewohner von Chens Taten erzählen, dann kommen sie immer wieder auf eine Geschichte zurück: 1998, als er gerade die Uni abgeschlossen hatte und in sein
Heimatdorf zurückgekehrt war bemerkte er einen üblen Geschmack im Wasser, und
bald hörte er von Dorfbewohnern, die wie aus dem Nichts von undefinierbaren
Krankheiten dahingerafft wurden. Einige Jugendliche, die es an die Uni
geschafft hatten, wurden dort abgelehnt, weil sie die ärztliche Untersuchung
nicht bestanden hatten. Chen war sicher: Das alles hing mit dem Wasser
zusammen. Er begann, Beweise zu sammeln und brachte Funktionäre auf dem
tiefsten Level der Partei von beiden Seiten des Flusses dazu,
zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sammelten sie 40´000 Unterschriften für die
Schließung der Papierfabrik und um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.
Nachdem die Fabrik geschlossen und die abgelagerten Gifte rückgebaut waren,
reichte Chen eine Bewerbung beim britischen Commonwealth ein und erhielt
Entwicklungshilfe in Höhe von 200´000 ¥ für den Bau eines 163 Meter tiefen
Brunnens zugesprochen. Das waren Festtage im Dorf. Alle packten mit an, beim
Bau des Brunnens oder bei der Renovierung der Kanalisation. Gemeinsam bauten
sie den Brunnen zu einem Drittel des Preises, den die staatliche Baufirma
verlangt hatte. Sie fühlten sich stark.
„Wer hätte
gedacht, dass der Blinde, der von allen am wenigsten Wert schien, dafür sorgen
würde, dass wir sauberes Wasser trinken können!“
Man muss wissen, wie schwierig es für Bauern und
Dorfbewohnern ist, mit Behörden zu verhandeln. Geschichten wie die folgende
passieren nämlich immer wieder:
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