Montag, 21. Mai 2012

Han Han: Schande // 韩寒:为止


Schande

Vor dem ersten Mai, dem internationalen Tag der Arbeit sollte es noch Tag des Gedenkens, der nur China gehört geben. Am 29. April 1968 wurde Lin Zhao* erschossen. Viele junge Leute heutzutage kennen noch nicht einmal ihren Namen. Das Leben ist kurz, und Freiheit kennt keinen Preis. Die Geschichte hat ihr Unschuldsurteil verkündet, aber davor hat die Geschichte bereits fünf Mao Erschiessungsgebühr von ihr kassiert. Die Kugeln sollten zur Schande bis ins Hier und Jetzt fliegen.

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* Intellektuelle, die während der 100-Blumen-Bewegung die KP kritisierte. Während jener Bewegung hatte Mao zu Kritik aufgefordert, viele der Kritiker wurden später aber verhaftet, so auch Lin Zhao. 1968 wurde sie nach acht Jahren im Gefängnis von einem Erschießungskommando hingerichtet.



Murong Xuecun, Wang Xiaoshan, Shi Feige, Ciao Han,Yu Xinqiao und He Bing** , gelöschter Kommentar eines gelöschten Kommentars, verbotene Worte über verbotene Worte. Der Satz ist so wahr wie zuvor: Der wesentliche Klassenkonflikt im heutigen China ist der Widerspruch zwischen der täglich tiefer sinkenden Moral unserer Regierungsbeamter und unser aller täglich steigenden Intelligenz. Wer hätte gedacht, dass die Lösung dieses Widerspruchs nicht in der Hebung der Moral unserer Regierenden liegt, sondern im Abwürgen der Stimmen der letzteren? Bewahrt die Erinnerung an und Unterstützung für diese Blogs! [Dieser Blogeintrag ist konsequenterweise bereits gelöscht worden.]


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** Bekannte öffentliche Intellektuelle, die mit ihren regierungskritischen Kommentaren öfters die Grenzen des Erlaubten überschreiten.

Mittwoch, 16. Mai 2012

Han Han: Der Wind des Pazifik

Ein interessanter Blogpost von einem jungen, aber großen Schreiber: Han Han.


Als Flug 320 aus Shanghai auf der Landebahn am Taoyuan International Airport in Taiwan aufsetzte weckte mich die Vibration auf. Passenderweise spielte mein Smartphone gerade "Xixue" von Zhang Aijing, einen Song den man selten hört. Chen Sheng hat geschrieben: "1948 verliess ich den Menschen, der mir am meisten in der Welt bedeutete. Als der Zug anfuhr tanzten einsame Schneeflocken am Himmel des Nordens. Hätte ich gewusst, dass dies ein Abschied für 40 Jahre sein würde, ich wäre geblieben". Mein erster Eindruck von Taiwan ging lange nicht über den hinaus, den die Filme von Hou Xiaoxian und Yang Dechang bei mir hinterliessen. Nur Wei Desheng und Jin Badao haben ihn noch ein wenig zurechtgerückt. Die Schriftsteller die ich mag, Liang Shiqiu, Lin Yutang und Hu Shi sind alle nach Taiwan gegangen, und haben sich auch alle mit Lu Xun gestritten.

Als das chinesische Festland arm hatte Taiwan schon Geld, und als das Festland dann Geld hatte - oder besser gesagt, als die Regierung und ein paar wenige andere Geld hatten - da hatte Taiwan schon… [diesen Satz beendet er wohlweislich nicht]. Als sich der Pulverdampf verzog, fand sich das chinesische Volk geteilt, auf beiden Seiten einer Meerenge; die Wunden, die dies in viele Familien schlug sind mittlerweile vernarbt. Die Strassen Taipehs sind wirklich so wie sie Youkelilin in seinen Songs beschreibt, wie ein Labyrinth breiten sie sich vor mir aus. Doch für einen Fremden ist ja jede Stadt ein Labyrinth.

Ich komme im Hotel an, gleich daneben ein Filiale der Buchkette "Ehrliche Ware", 24 Stunden am Tag geöffnet, mit angeschlossenem Barbetrieb. Mein Freund brauchte eine neue Brille, deshalb abends erstmal eine machen lassen. Wir nahmen ein Taxi ins Universitätsviertel und betraten dort ein Optikergeschäft. Keine Verkäuferinnen die mit dummsüsser Stimme die Kunden einlullen sollen wie man sie auf dem Festland immer trifft, der Besitzer verkauft selber. Eine Brille gefiel meinem Freund besonders, doch es würde ein paar Tage dauern bis er die fertige Brille abholen könnte. "Vergessen wir's" meinte mein Freund, "ich bin nur drei Tage hier und brauche die Brille morgen, nicht erst in ein paar Tagen." Da passierte etwas erstaunliches: Der Geschäftsinhaber fummelte eine Schachtel Kontaktlinsen unter der Theke hervor, legte sie in die Hände meines Freundes mit den Worten: Bitte verzeihen Sie dass ich Ihnen nicht helfen konnte. Ich gebe Ihnen die hier mit, als Übergangslösung." Sogar ich, der immer versucht, das Beste von den Menschen anzunehmen, war erstmal sprachlos. Mein Gott, wo gibt es noch so gute Menschen? Da muss es doch einen Haken geben, können wir nun wirklich einfach so gehen?

Aber dann verliessen wir das Geschäft in aller Ruhe und fanden ein anderes Optikergeschäft gleich in der Nähe. Dort versprach man uns, dass die Brille bis zum nächsten Tag schon fertig sein würde, und danach suchte der Inhaber ein Gestell aus, in dass er die kaputten Gläser meines Freundes notdürftig einpassen konnte, damit er diesen Abend eine Brille habe. Das waren zwei völlig normale Optikergeschäfte, zufällig ausgewählt. Doch man könnte meinen, das sei alles sorgfältig arrangiert worden, damit wir Festlandchinesen einen besseren Eindruck von Taiwan kriegten.

Auf den Strassen Taiwans finden hier und da kleine Demonstrationen statt und es hängen Protestplakate an Hauswänden. Für die meisten Festlandtouristen ist das ungemein aufregend, weshalb die meisten Abends im Hotel bleiben und im Fernsehen Politdebatten kucken. Als meine Mutter letztes Jahr von einer Taiwanreise zurückkam fand sie das ungemein aufregend: Politiker beschimpfen sich ungehemmt im Fernsehen, das ist besser noch als "Happy Camp" (eine Game-Show mit Prominenten, die in China in ihre 15. Saison geht). Und die Taiwaner sehen darin schon gar nichts besonderes mehr. Doch was mich noch mehr beeindruckte als Herr Ma Yingjiu (letztes Jahr im Amt als Präsident Taiwans bestätigt) war Herr Wang Songpeng. Das ist kein berühmter Politiker, auch kein Künstler und kein Publizist. Er ist Taxifahrer. Einmal kam ich am morgen aus dem Hotel und nahm sein Taxi zum Yinming Berg. Dort angekommen merkte ich, dass ich mein Handy im Taxi verschusselt hatte. Das Kennzeichen des Taxis hatte ich mir natürlich nicht gemerkt. Meine Freunde suchten die Nummer des Taxi Unternehmens raus, vielleicht könnte man ja so was erreichen, Ich rief das Hotel an, vielleicht wäre auf den Bildern der Überwachungskamera ja das Autokennzeichen erkennbar. Nach ein paar Minuten kam der Rückruf, ich fragte: "Na, konnte man etwas erkennen?" - "Nein, das Video der Überwachungskamera ist viel zulang, viel zuviele verschiedene Taxen. Aber gerade kam ein Taxifahrer vorbei und hat ein Handy abgegeben, er meinte, das hätte ein Hotelgast in seinem Taxi zurückgelassen."

Ich war versteinert. Ich fragte nach der Telefonnummer des Fahrers und nach seinem Namen, ich möchte mich bei ihm bedanken. Herr Wang Songpeng meinte, das sei doch nicht nötig, das sei doch nichts besonderes, wir machen das alle so. Vor ein paart Tagen sei er mit ein paar Freunden rund um die Insel gefahren, und sie planten nun, eine Reise aufs Festland zu unternehmen. Das sei ja der Grund, warum er Taxi fahre, um an möglichst viele Orte zu kommen, viel zu sehen. Zum Schluss meinte er noch, "Ich habe QQ (eine Mischung aus Skype und ICQ, beliebt in China) und Weibo (der chinesische Twitter-Klon), was ist Ihre Nummer, damit wir online in Kontakt bleiben können? Da schien die Distanz zwischen den Chinesen auf beiden Seiten der Strasse von Taiwan plötzlich ganz klein. Dann meinte er noch: Haben Sie denn auch Facebook? Ich: "Auf dem Festland gibt es kein Face… bog". Er: "Oh, ach ja… Okay, sprechen wir ein andermal, ich hab Kundschaft!"

Vielleicht hatte ich ja einfach Glück, dass ich nur gute Leute treffe, vielleicht kenne ich sie nur oberflächlich, aber sie waren fast alle freundlich. Kein Zweifel, würde ich noch ein paar Tage in Taiwan bleiben, würde ich sicher auch unschöne Seiten der Insel und ihrer Menschen kennenlernen, vielleicht würde die primitive Seite durchbrechen, und die Ressentiments der einfachen Leute würden mit ihnen durchbrechen. Es gibt keinen perfekten Ort, kein perfektes System, keine perfekte Kultur, und innerhalb des chinesischen Kulturkreises mag Taiwan kein Ideal sein - aber es gibt nichts besseres.

In diesem Blogeintrag will ich keine Politik- und Systemdiskussion führen. Für einen Schriftsteller aus dem Festland fühle ich mich einfach verdammt verloren. Dieses Gefühl von Verlorensein kommt aber nicht wegen ein paar Tagen Sightseeing sondern ist ein Gefühl, das immer schon in mir war. Ich bin verloren in der Umgebung, in der ich lebe, die ersten Jahrzehnte war blutiger Kampf die Parole, danach wurden wir zu Gier und Egoismus aufgerufen, deshalb tragen viele von uns diesen Samen der Leere in uns: Ich bin verloren auf dem Schlachtfeld, auf dem die vorherige Generation die Kultur und damit auch jene traditionellen Tugenden zerstört hat, das Vertrauen zwischen den Menschen, Glauben und Konsens und trotz all der Beteuerungen keine neue, bessere Welt anstatt der alten aufgebaut hat. Als Nachhut ist man ratlos: Kann man das noch reparieren, neu aufbauen - oder doch besser vollends zerstören; Ich bin verloren ob der Frage, ob die Generation nach uns in einer Umgebung gegenseitigen Verständnisses oder des sich gegenseitig verletzens aufwachsen wird. Ich bin verloren, da ich als Schriftsteller beim Schreiben dieses Blogeintrags ständig die Wörter hin- und herwende, die einen verwerfe und andere benutze, damit ich nie diese unsichtbare Linie überschreite; Ich bin verloren, denn jedesmal wenn jemand etwas Guten tut ist mein erster Gedanke: "Könnte da nicht eine finstere Absicht dahinter stecken?". Ich fühle mich verloren, da die Werke von uns Festlandschriftstellern kaum je in Taiwan gelesen werden, und wenn etwas übers Festland in Taiwan Resonanz hat, dann diese Geschichtsbücher und Gesellschaftskritik, und das schlimmste ist noch, dass wir Festlandchinesen uns auf diese Publikationen, die es bei uns nicht gibt, stürzen müssen, um mehr über uns selber zu lernen. Abgesehen vom Profit und vom unablässigen Kampf gegen unsere Mitmenschen lässt uns alles nur noch kalt. Ereignisse und Nachrichten aus unserem Land, die dieser Kälte und Absurdität entspringen machen Schlagzeilen in Zeitungen überall auf der Welt. Obwohl diese Ereignisse eigentlich Fehler unserer Führung darstellen, so sind sie Leier doch zu Fussnoten unserer Kultur geworden.

Ja, ich möchte Hongkong und Taiwan danken. Nur weil sie der chinesischen Kultur Schutz geboten haben konnte sie ihre schönen Traditionen tradieren, wie der Lebensfunke eines Baumes, der in den Wurzeln schlummernd eine Feuersbrunst überleben kann, um dann neu auszutreiben. Nicht dass Hongkong und Taiwan über jeden Zweifel erhaben wären. Wir aber, obwohl es bei uns nun Ritz Carlton und Peninsulas gibt, Gucci und Louis Vuitton, aber die Frauen unserer Bezirksbeamten sind reicher als die Minister in Hongkong und Taiwan, obwohl wir Blockbuster drehen, die bei ihnen für 20, 30 Filme reichen würden, die Olympischen Spiele und Weltausstellungen, mit denen wir protzen werden sie sich nie leisten können. Doch auf all dies kann ich nicht stolz sein wenn ich Taiwans Taxifahrer, Nudelshop-Besitzer und Passanten sehe. Was immer wir haben, sie haben es auch. Die Statussymbole auf die wir so gerne verweisen wollen sich die Steuerzahler Taiwans und Hongkongs nicht leisten, dafür haben sie sich das bewahrt, was wir verloren haben. Und genau die Dinge, die Menschen am meisten Würde und Stolz geben können, die fehlen uns. 

Kultur, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit sind alles, was ein Volk ausmacht. Keine Land verdient sich den Respekt der anderen, indem es wie verrückt Supersportwagen und Schnellboote aufkauft. Wieder im Flugzeug, auf 20'000 Fuss Höhe, nur eine halbe Stunde vor Shanghai geht mein Blick zum Fenster hinaus und sieht nichts als Wasser. Wenn wir doch schon den Wind des Pazifik teilen, dann soll er doch auch alles andere zu uns herübersehen!

Das Original findet man hier: 

Montag, 7. Mai 2012

Die Geschichte des Blinden, selbstgelernten Anwalts. I


Wer hat in den letzten Tagen nicht mit dem Schicksal des blinden, selbstausgebildeten Anwalt Chen Guangcheng mitgefiebert?
Interessante Artikel zum Beispiel:
und im Tagi:
Vor ein paar Monaten schon hatte ich in einem Chinesischen Blog (hier)einen langen Post über seine Geschichte gelesen, die mich tief beeindruckt hat. In den vielen Artikeln in der westlichen Presse der letzten Tage waren die Hintergründe zu kurz gekommen - deshalb hier  haben mir die Übersetzung des chinesischen Blogs.
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Mein erster und tiefster Eindruck von Chen waren seine Hände. Unter Straßenschild Nummer 129 an der Hauptstraße von Peking nach Linyi. Um drei Uhr früh stieg ich aus, und ein paar warmer Hände hielten mich fest. Wenige später hielten mich diese Hände wieder und zeigten mir sein Dorf. Für einen Blinden sind seine Hände die einzige Möglichkeit, in direkten Kontakt mit einem anderen Menschen zu treten. Mit seinen Händen drückt er drückt er seine Gefühle aus: Wenn er seine fünf Finger mit deinen verschränkt, zeigt er einem, dass er vertraut, wenn er mit mehr Kraft zudrückt, dann unterdrückt er eine innere Wut, ein leichtes tätscheln bedeutet Zustimmung, und wenn seine Finger die Umrisse deines Gesichtes ertasten, dann sagt er: „Was für ein Mensch bist du?“. Und seine Hände sind immer warm...
Der Blinde Junge, der Vogelnester ausraubt
Chen ist geboren und aufgewachsen im Dorf Dongshigu in der Provinz Shandong. Als er ein Jahr alt war befiel ihn ein hohes Fieber. Mutter musste die Familie versorgen und konnte sich nicht, sie buk Brot für die Großfamilie und konnte sich nicht vom Herd losreißen. Sein Vater rang hilflos seine Hände und könnte nichts anderes tun, als seinem Kind beim Weinen zuhören – eine ganze Nacht lang. Für Chen gab es kein Sonnenlicht mehr nach dieser Nacht, nie mehr. In diesem Abgelegenen Dorf in den Vorbergen, auf beiden Augen blind – und doch war er einer der schlimmsten Lausbube des Dorfes – und ein talentierter Eierdieb! Er sagte den andern Kindern, sie sollten vom Boden aus mit Bambusstücken gegen das Vogelnest schlagen, und er kletterte auf den Baum, und folgte dem Zwitschern der verängstigten Küken zum Nest – er fand die Eier jedes mal. Schon lange erwachsen, fragen ihn seine Freunde aus jenen Tagen manchmal: „Na, Chen, wann gehen wir wieder Fische fangen?“ Kein anderes Kind im Dorf konnte so gut Fische mit den Händen fangen wie er: „Ich sehe die Fische nicht, aber ich weiss, wo die Fische sein könnten, unter welchen Steinen es Fische hat.“
Seine Kindheit war glücklich, er half seinen Eltern bei der Weizenernte, fühlte die Veränderung der Ähren mit seinen Händen. Unglücklich machte es ihn, wenn einige Kinder ihn foppten, seine Blindheit ausnutzten, zum Beispiel indem sie ihm eine Kopfnuss verpassten und dann davonrannten. Seine Strategie war, in diesem Moment nicht zu reagieren, aber sich Stimme und Dialekt des Jungen zu merken – und wenn ihm dieser arme Trottel das nächste Mal nah genug kam, dann packte er ihn und verpasste ihm eine Tracht Prügel, die er nicht so schnell wieder vergessen würde. Wenn ihn die anderen Kinder schlugen und dann ins Lehre laufen liessen, dann standen die Erwachsenen nur daneben und sagten: Ach, lasst doch mal den blinden Jungen in Ruhe – taten aber nichts. Wenn er aber mal einen in die Finger bekam und ihm gab, was er verdiente, dann eilten sie herbei und trennten die Streithähne. Offensichtlich fanden sie es unbewusst ganz normal, dass blinde Kinder grundlos gequält werden. „Die Welt ist ungerecht“, realisierte Chen.
Einem Blinden bieten sich im Leben nur wenige Möglichkeiten. Erst als Chen 18 Jahre alt war, besuchte er die erste Klasse der Primarschule. Nur mit Glück entkam Chen dem Schicksal, als Analphabet durchs Leben zu gehen, ein Glück, das die wenigsten Blinden haben. Sein Vater kannte die wichtigsten Schriftzeichen, und las ihm abends die alten Klassiker vor, über den Aufstand der Geächteten, und über die Intrigen während der Zeit der streitenden Reiche. Der ständige Kampf gegen das Unrecht in der Welt, das war ein Ideal, der sich ihm tief einprägte. In der Sekundarschule für Blinde sperrte der Rektor die Kinder in den Klassenzimmern ein, unter dem Vorwand, sie vor dem Straßenverkehr schützen zu wollen, durften sie die Schule auch in Pausen nicht verlassen. Die Schüler protestierten: „Uns einzusperren schützt uns eine Zeit lang – aber nimmt uns Chancen fürs Leben.“ Der Protest, organisiert von Chen, war erfolgreich.
Zu der Zeit gab es in ganz China nur zwei Universitäten, die  pro Jahr zusammen 40 bis 50 blinde Studenten aufnahmen. In den Augen der meisten Menschen waren Blinde außer als Masseure und als Wahrsager vor den Bushaltestellen zu nichts nütze.
Aber Chen ging seinen eigenen Weg, zurück in sein verarmtes Dorf. Er war ein interessierter Mensch, liebte es, zuhause über Politik und über das Weltgeschehen zu diskutieren. Immer mehr Leute kamen zu ihm, um Streitigkeiten schlichten zu lassen, wenn jemand ein Blumentopf auf den Kopf gefallen war, vom Hund gebissen wurde, oder wenn alte Leute sich von ihren Kindern nicht gut genug versorgt fühlten. Chen ging diese Fälle immer aus seinem persönlichen Gerechtigkeitssinn heraus an, doch als er einmal von einem Richterspruch in einem ähnlichen Fall hörte, da wurde ihm klar, dass das Recht mit seinem Empfinden vieles gemeinsam hatte. Er war fasziniert, liess sich von seinem Vater Gesetzestexte vorlesen und hörte Justizsendungen im Radio.
1991 trat in China ein Gesetz zum Schutz der Menschenrechte Behinderter in Kraft, von da an waren Blinde von der Bürde landwirtschaftlicher Abgaben und von Fronarbeit befreit. Doch das Gesetz war ein Papiertiger, in den Dörfern änderte sich gar nichts.
Die Schläger, von den Dorfvorstehern mit dem Eintreiben der Steuern beauftragt, scherten sich um keine Gesetze, das Recht des Stärkeren zählte. Sie steckten Zahlungsunwillige in Jutesäcke und knüppelten dann auf sie ein, bis sie sich nicht mehr bewegten, sie stemmten Türen auf um Häuser nach Wertsachen zu durchsuchen. Und Behinderte waren die leichtesten Opfer. Im Nachbardorf erlitt ein Taubstummer eine schwere Gehirnerschütterung. 1993 wollten sie bei Chen Steuern eintreiben, und er begann sich zu wehren. Er petitionierte vor der Dorfregierung, der Bezirksregierung, auf der Ebene der Stadt, Provinz – und schließlich beim Staatsrat in Peking, der höchsten Stelle des Landes, die ein Bürger anrufen kann. Drei Monate später standen Dorfbeamte vor seiner Tür, bezahlten ihm die bereits eingezogenen Abgaben zurück. Von nun an würde er sogar die ¥200 (ca. € 25) erhalten, die ihm zustanden. Die Freude währte nur kurz – bald darauf stellte er fest, dass die Dorfregierung einen großen Teil des Felds, das er gepachtet hatte, noch einmal weiterverpachtet hatte. Ohne sein Wissen, und die ¥ 240 an Pacht erhielt nicht er, sondern die Dorfregierung. Petitionieren ist zwecklos, musste Chen erkennen.
Lin, ein Blinder aus dem Nachbardorf suchte seine Hilfe. Weiterhin wurden von ihm Steuern und Abgaben eingezogen, man hatte ihn auch zu Fronarbeit auf dem Bau gezwungen. Als er sich weigerte, die Abgaben zu bezahlen, beschimpfte ihn der Dorfvorsteher über den öffentlichen Lausprecher, und die Partei entschied: „Blinder, alle bezahlen, und am Ende wirst auch du bezahlen!“.
Chen setzte für Lin die Klageschrift auf. Das Gericht entschied für Lin und gegen den Dorfvorstand. Dies war Chens erster Fall als Anwalt.
Viele merkwürdige Dinge passierten im Dorf. Um legal ein Kind zu haben, brauchte mein eine Geburtsbewilligung vom Familienplanungsausschuss. Dieser war verantwortlich für die Umsetzung der Ein-Kind-Politik und mit großer Macht ausgestattet worden. Eine solche Bewilligung aber wurde nur ausgestellt, wenn man eine Flasche „Wundermedizin“, von der keiner wusste, wozu sie gut war und wie man sie benutzte für 350 ¥ zu kaufen. Die meisten aber konnten sich diese Wundermedizin – und das Recht, Kinder zu haben – nicht leisten! Eine dieser Frauen, verheiratet und zum ersten Mal schwanger, also mit jedem Recht zu gebären, wurde vom Familienplanungsausschuss im 6.Schwangerschaftsmonat aufgegriffen. Ihr Kind sollte zwangsabgetrieben werden, um ein Exempel zu statuieren. Als Chen davon hörte, eilte er zum Ort des Geschehens, wutentbrannt schrie er: „Was ihr vorhabt ist ein Verbrechen, ein 6-monatiges Baby abzutreiben ist Mord, wisst ihr das eigentlich?!“ Erschrocken ließen die Leute vom Familienplanungsausschuss von ihrem Vorhaben hab.
Immer mehr Leute sahen in Chen einen Beschützer, sie dichteten ihm etwas übernatürliches, fast heiliges an. Er wehrte ab, er sei kein Schutzheiliger: „Diese Rechte habe nicht ich euch gegeben, diese Rechte hattet ihr immer schon!“
In der Nachbarsfamilie gab es einen Geisteskranken, die Nachbarsfamilie wusste sich nicht anders zu helfen, als ihn in einem nur wenige Quadratmeter grossen Schuppen einzusperren, und ihm jeden Tag etwas zu essen zu bringen. Selbst für diesen Mann aber hatte die Regierung während 10 Jahren Abgaben eingezogen. Chen warnte: „Wenn ihr weiterhin versucht, dieses Geld einzuziehen, dann wird der Richter davon erfahren!“ Solche Dinge passierten immer wieder, und Fall für Fall wurde Chen zum „Barfußanwalt“. Im ländlichen China bezeichnet man mit „Barfuß“ einen Menschen, der einer Tätigkeit nachgeht, für die er keine offizielle Ausbildung hat. Berühmt waren die „Barfußärzte“ der Mao-Zeit, die nach einer Grundausbildung in den Kreisstädten zum ersten Mal medizinische Grundversorgung in die Dörfer brachten.
Heute sagt Chen: „Solche Fälle lehnten die richtigen Anwälte in den Städten ab, sie konnten sie nicht annehmen, und die Bauern hätten sie auch gar nicht bezahlen können.“ 2001 schliesslich gab Chen seine Arbeit im Bezirkskrankenhaus auf, um sich nun vollständig der Vertretung seiner Mitbürger vor Gericht zu widmen. „Ehrlich gesagt: Die Leute, die ins Krankenhaus kommen, um sich massieren zu lassen sind sowieso alles irgendwelche Regierungsbeamte, die vom vielen Mah-Jongg spielen krank geworden sind.“ Wer nicht sieht, muss das zehn- und mehrfache in die Arbeit investieren. Wenn ein Sehender ein Protokoll liest, so muss ein Blinder sich die Aufnahme davon anhören. Was ein sehender mal eben mit dem Fahrrad abholt, dafür war Chen stundenlang zu Fuß unterwegs, auf Bergstraßen und über Schutthalden, und meist allein. Häufig verirrte er sich und fand erst mitten in der Nacht nach Hause. Einmal überquerte er eine Brücke und fiel ins Flussbett hinunter – hätte der Fluss nicht ein wenig Wasser geführt, es wäre sein Tod gewesen.
Die Gefahren der Natur waren real, aber sie verblassten vor den Gefahren die von den Menschen, denen er mit seiner Arbeit schadete ausging. Häufig gab es nächtliche Drohanrufe. Eines Nachts ging er auf einer menschenleere Landstraße, da hörte er hinter sich die Geräusche eines Motorrads, das ihm langsam folgte. Plötzlich beschleunigte es, raste direkt auf ihn zu – um im letzten Moment abzubremsen. Totenstille und Dunkelheit. Dann fuhr das Motorrad davon. „Wahrscheinlich ein angeheuerter Schläger, der im letzten Moment sein Gewissen spürte.“
Von 1992 bis heute bis heute waren Sitzungen, Einnahmen und Ausgaben von Dongshigu ein Geheimnis gewesen. Unter Chens Anleitung wählten zwei Drittel der Dorfbewohner nun sechs Vertreter, um die Dorfregierung aufzufordern, zurückzutreten, um eine neue Regierung zu bilden. Chen klebte 300 offene Briefe mit den Forderungen der Bewohner an die Regierung an die Wände des Dorfes und schickte Kopien davon an den Volkskongress und die oberste Staatsanwaltschaft in Peking. Darauf, am 4. März 2004 hingen 20 Plakate mit Bekanntmachungen in großen Lettern an den Wänden des Dorfes. „Blinder, wenn du das nächste Mal den Rücktritt der Regierung auch nur erwähnst, werden wir deinen Schädel einschlagen!“
Chen rief sofort den Polizeinotruf und schickte eines der Plakate als Beweis zum Polizeiposten. Es kam keine Antwort, niemand ging ans Telefon. Immer wieder rief er bei der Polizei an, über 10-mal, schließlich herrschte ihn jemand an: „Ruf noch einmal an, dann kommen wir vorbei und machen dich fertig!“. Der Dorfvorstand freute sich: „Nun sieht man, wer bei der Polizei das Sagen hat, wir oder Ihr!“ Dann wurden in einem Wäldchen, welches einem der sechs gewählten Repräsentanten gehörte, alle Bäume gefällt. Chen erhob Anklage gegen die Bezirkspolizei. Nach über einer Woche kamen dieselben Bezirkspolizisten ins Dorf – mit der Klageschrift, die er zur Staatsanwaltschaft geschickt hatte! „Wegen einer solchen Kleinigkeit wollt ihr Anklage erheben?“ Gefasst erwiderte Chen: „Für euch mag das eine Kleinigkeit sein, für uns bedeutet es viel! Ihr aber werdet vom Staat bezahlt, und ob ihr einer solchen Kleinigkeit nachgehen wollt oder nicht – Ihr müsst!“ Doch wie war die Polizei überhaupt an Chens Klageschrift gekommen? Chen ging erneut vor Gericht, dort behauptete man, gar nie eine Klageschrift erhalten zu haben, deshalb sei auch nie ein Fall eröffnet worden. Darauf war Chen vorbereitet, er hatte die Klageschrift per Einschreiben eingereicht und die Quittung aufbewahrt. Er bereitete nun eine Anklage gegen die Bezirksstaatsanwaltschaft selber vor, wegen Verletzung der Klägerrechte und Übergabe von Beweisen an den Angeklagten.
Wenn die Dorfbewohner von Chens Taten erzählen, dann kommen sie immer wieder auf eine Geschichte zurück: 1998, als er gerade die Uni abgeschlossen hatte und in sein Heimatdorf zurückgekehrt war bemerkte er einen üblen Geschmack im Wasser, und bald hörte er von Dorfbewohnern, die wie aus dem Nichts von undefinierbaren Krankheiten dahingerafft wurden. Einige Jugendliche, die es an die Uni geschafft hatten, wurden dort abgelehnt, weil sie die ärztliche Untersuchung nicht bestanden hatten. Chen war sicher: Das alles hing mit dem Wasser zusammen. Er begann, Beweise zu sammeln und brachte Funktionäre auf dem tiefsten Level der Partei von beiden Seiten des Flusses dazu, zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sammelten sie 40´000 Unterschriften für die Schließung der Papierfabrik und um die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Nachdem die Fabrik geschlossen und die abgelagerten Gifte rückgebaut waren, reichte Chen eine Bewerbung beim britischen Commonwealth ein und erhielt Entwicklungshilfe in Höhe von 200´000 ¥ für den Bau eines 163 Meter tiefen Brunnens zugesprochen. Das waren Festtage im Dorf. Alle packten mit an, beim Bau des Brunnens oder bei der Renovierung der Kanalisation. Gemeinsam bauten sie den Brunnen zu einem Drittel des Preises, den die staatliche Baufirma verlangt hatte. Sie fühlten sich stark.
„Wer hätte gedacht, dass der Blinde, der von allen am wenigsten Wert schien, dafür sorgen würde, dass wir sauberes Wasser trinken können!“
Man muss wissen, wie schwierig es für Bauern und Dorfbewohnern ist, mit Behörden zu verhandeln. Geschichten wie die folgende passieren nämlich immer wieder: